Kolumnen
Warum Merkel doch Recht behalten wird
Bisher haben Türken die EU-Mitgliedschaft ihres Landes begehrt, die Europäer dagegengehalten. Dabei zeigen sich die Türken keineswegs als überzeugte Europäer. Warum dann dieser Prozess? Und: Warum ist er zum Scheitern verurteilt? (Foto: reuters)

Was ist das neue Image der Türkei in Europa? Vor langer, langer Zeit war es so: Die Osmanen bildeten den absoluten Gegensatz zu Europa. Sie wurden als Geißel Gottes gesehen. Entsprechende Aussagen Martin Luthers sind bekannt. Von Türkenbedrohung war die Rede, Türkenkriege fanden statt. Mit dem sich ändernden Kräfteverhältnis haben auch die Bilder sich gewandelt.
Vor etwa 160 Jahren kam ein neues Bild der Türkei auf: „Der kranke Mann am Bosporus“. Der russische Zar Nikolaus I. soll diesen Spruch erstmals in einem Gespräch mit dem damaligen britischen Botschafter geprägt haben. Für ca. 150 Jahre sollte dieser Spruch Bestand haben. Er prägte die Wahrnehmung der Türkei bis zum Anfang dieses Jahrtausends. Zugegeben, wenig schmeichelhaft für die Türkei.
Der wartende Mann am Bosporus
Mittlerweile zeichnet sich ein neues Bild der Türkei ab. Die Türkei der dauerhaften politischen Krisen mit einer schwachen Demokratie dominiert nicht mehr das Bewusstsein. Auch das Bild vom Armenhaus Europas wird nicht mehr so oft bemüht. Dafür hat Europa nun seine eigenen Armenhäuser mit Rumänien und Bulgarien. Auch der derzeitige Zustand Griechenlands, Spaniens und Italiens gibt keinen Anlass zur Überheblichkeit. Und auch die wirtschaftlichen Schwergewichte Frankreich und Großbritannien haben mit Problemen zu kämpfen.
Also: Die Türkei wird nicht mehr mit absolut negativen Bildern assoziiert. Aber zu den aufstrebenden Schwellenländern wird die Türkei auch noch nicht gezählt. Was zeichnet sich stattdessen ab? Das Bild vom „wartenden Mann am Bosporus“. Das Bild eines ewigen EU-Kandidaten. Eines Kandidaten, der vor den Toren Europas steht, der rein möchte, den man aber nicht reinlässt.
Rückt die Türkei wieder irgendwie in den Fokus des Interesses, kommt das Thema von neuem auf, wie jüngst anlässlich des Besuchs der Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Türkei. Es werden Umfrageergebnisse veröffentlicht, wonach die Mehrheit der Deutschen die Mitgliedschaft der Türkei ablehnt. Zweitklassige Politiker, deren Meinung ansonsten nicht wirklich gefragt ist, drücken genüsslich vor laufenden Kameras ihre Ablehnung der Türkei aus.
Eigentlich schön für die Europäer, dass sie einen Kandidaten wie die Türkei haben. Mehr noch, sie ist Balsam für ihre geschundene Seele: Dass sie in schwierigen Zeiten umworben werden, dass sich ein Land für die Mitgliedschaft interessiert; dass sie einmal von den Existenzproblemen des Euro abgelenkt werden und stattdessen einen Anwärter noch hochnäsig abschmettern können, das schmeichelt der geschrumpften und vor sich hin alternden ehemaligen Weltmacht.
Doch – wie lange geht das noch gut? Anders gefragt: Wann schmeißt Erdoğan den Kandidatenstatus hin? Wenn man über diese Fragen nachdenkt, sollte man sich nicht nur von Wunschvorstellungen leiten lassen, sondern sich auch mal einige Tatsachen zumuten. Tut man das, sieht man: Der Kandidatenstatus, ja der ganze Prozess ruht auf sehr wackeligen Beinen.
EU-Prozess: Für beide Seiten eine Alibi-Veranstaltung
Der EU-Beitritt der Türkei wird von den Bevölkerungen beider Seiten nicht gewollt und wird doch von der Politik als Ersatzhandlung für andere Probleme bevorzugt. Schaut man sich Umfragen zum Meinungsbild der Bevölkerung zu dieser Frage an, sieht man eine sehr große Ablehnung. 70-80 Prozent der deutschen Bevölkerung lehnen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ab.
Die politische Klasse nimmt den Kandidatenstatus der Türkei hin, um die Türkei irgendwie unter Kontrolle zu halten, ohne sich dabei am Ende die Mitgliedschaft vorstellen zu können. Es wird also ein falsches Spiel gespielt. Man lässt sich auf das Spiel ein, weil man diese Angelegenheit geerbt hat und man zurzeit keine bessere Lösung, keinen Ausweg sieht.
Auf der türkischen Seite ist es nicht besser. Die Stimmungslage in der türkischen Bevölkerung ist mittlerweile jener der deutschen ähnlich. Befürworteten noch im Jahr 2004 bei der Aufnahme der Mitgliedsverhandlungen an die 80 Prozent diese, so ist diese Rate nach einigen Umfrageergebnissen heute auf mittlerweile auf unter 20 Prozent gesunken.
Auch hier beruht der Prozess nicht auf der Überzeugung, Europäer sein zu wollen, sondern ist Mittel zum Zweck. Die Mitgliedschaft wird mittlerweile in der türkischen Öffentlichkeit legitimiert, indem man sagt, der Weg sei das Ziel. Diejenigen, die diesen Prozess befürworten sagen: In unserem Prozess der Demokratisierung, beim Zurückdrängen des Militärs aus der Politik in die Kasernen reichen die zivilgesellschaftlichen Kräfte nicht aus, wir brauchen die externe Motivation in Form des EU-Prozesses.
Ende des EU-Prozesses bedeutet nicht Ende der Beziehungen
Also: Auf die europäische Identität setzt man auf beiden Seiten eigentlich nicht. Europa dient als Mittel zum Zweck. Wenn wir schon mal beim Stichwort Identität sind: Die europäische Identität beruht zu großen Teilen auf der Auseinandersetzung mit der muslimischen Welt. Man mag dies gut heißen oder schlecht. Man muss es aber akzeptieren, will man realistisch bleiben.
Poitiers oder Wien lösen nicht auf beiden Seiten die gleichen Gefühle aus; auch die heutige Sexualmoral schafft keine gemeinsame Grundlage. Angesichts dieser Lage stellt sich die Frage, ob sich denn die europäische Öffentlichkeit mit einem Mitglied Türkei immer noch mit der europäischen Idee identifizieren kann oder ob nicht vielmehr als Reaktion darauf antieuropäische, nationalistische Gefühle an Zulauf gewinnen würden.
Am Ende könnte also Angela Merkel mit ihrem Vorschlag der privilegierten Partnerschaft doch Recht behalten. Und wenn man es sich überlegt: Die Türkei bräuchte die Mitgliedschaft auch nicht. Es reicht, wenn sie zu einer politischen Ordnung findet, die allen ihren Bürgern Grundrechte garantiert, die Kurden, Aleviten, andere Minderheiten und auch die Sunniten zufriedenstellt.
Die Türkei und die Europäische Union müssen nicht unbedingt heiraten. Es reicht, wenn sie sich respektvoll begegnen. Dies würde auch keine Abwendung von Europa bedeuten. Dafür sind die menschlichen, kulturellen und auch historischen Bindungen zu stark. Und die Türkei wäre dieses unwürdige Image des ewigen Kandidaten, des wartenden Mannes am Bosporus los.
Manchmal denke ich: Allein deswegen würde es sich lohnen, dieses Lügengebäude des Mitgliedschaftsprozesses zum Einsturz zu bringen.