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Gesellschaft

Erdbebenopfer aus der Türkei: „Als Makler will ich nicht mehr arbeiten“

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Tarık Seymen Alben aus Osmaniye ist für sein Leben geprägt. Der 33-jährige Immobilienmakler hat die Erdbeben der vergangenen Woche hautnah erlebt. Das Gebäude, in dem er wohnte, ist zwar nicht eingestürzt, „doch das Nachbarhaus stand plötzlich nicht mehr da“, sagt er erschüttert. Ob er jemals wieder als Makler arbeiten kann, steht in den Sternen. Seine Heimatstadt hat er mit seinen nächsten Verwandten schon verlassen. Das Deutsch-Türkische Journal hat mit ihm gesprochen.

DTJ: Wo befinden Sie sich derzeit?

Alben: „Ich habe mit meiner Großmutter und meiner Tante sowie ihren Kindern Osmaniye verlassen. Wir sind momentan in Istanbul untergekommen. Bevor ich die Stadt verlassen habe, konnte ich beim letzten Blick vieles mir Vertraute nicht mehr sehen. Unser altes Haus war freistehend und nur zwei Stockwerke hoch. Im Nachhinein bin ich froh darüber. Denn das größere Nachbargebäude schräg gegenüber existierte nicht mehr. Als ich nach dem Erdbeben in Eile herausgelaufen bin, war ich perplex. Denn das gewohnte Bild der Straße hatte sich verändert. ‚Da stand doch ein Haus‘, dachte ich mir. Es ist kaum in Worte zu fassen. Es fühlt sich an wie ein Filmriss.“

In welchem Zustand waren Sie und Ihr Arbeitsplatz, als Sie Osmaniye verlassen haben? Wie geht es Ihrem Umfeld?

„Ortschaften in einer höheren, bergigen Lage waren noch stabil. Aber die Täler und das Stadtzentrum sind quasi zerstört. Wir hatten Gebäude mit elf Stockwerken, die eingestürzt sind. Mein Makler-Büro war in so einem hochstöckigen Gebäude. Das Büro existiert nicht mehr. Auf jeder Etage in diesen Gebäuden haben durchschnittlich zwei Familien gewohnt. Wir haben erfahren, dass zahlreiche Freunde und Bekannte ums Leben gekommen sind. Das ganze Ausmaß ist unvorstellbar. Experten auf Twitter geben Prognosen von 100.000 Toten oder sogar mehr ab. Ich war und bin nach wie vor völlig am Boden zerstört. Meine Freunde werde ich nie wieder sehen. Mein soziales Umfeld ist nahezu ausgestorben.“

Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als die Erde zu beben begann? 

„Ja, ich war am Schlafen. Ich bin wach geworden und dachte im ersten Augenblick, dass es sicher gleich vorbei sein würde. Als das Rütteln und Wackeln dann noch stärker wurden, bin ich zu meiner Großmutter gerannt. Ich habe sie in meine Arme genommen, in diesem Augenblick gab es einen krachenden Lärm. Offenbar ist da das Gebäude schräg gegenüber eingestürzt. In der oberen Etage waren auch meine Tante und ihre Kinder wohnhaft. Sie waren auch schon hinuntergelaufen. Dann haben wir die Straße verlassen und sind an einen sicheren Platz gegangen. Es war regnerisch und sehr kalt. Wir waren nicht warm genug angezogen. Weil wir gefroren haben, habe ich Feuer gemacht. Bis zum Morgengrauen haben wir an diesem Feuer gewartet. Dann bin ich zu meinem Büro gefahren. Doch als ich gesehen habe, dass das Gebäude eingestürzt ist, haben wir diesen Ort sofort wieder verlassen. Eigentlich war das der Moment, an dem mir klar wurde, dass ich nie wieder in dieser Stadt leben will. Es waren einige Helfer vor Ort, die an den Trümmern gearbeitet haben. Doch das Ausmaß der Zerstörung war so groß, dass es nicht gereicht hat.“

Welche staatlichen oder ehrenamtlichen Hilfen haben Sie erreicht?

„Es hat uns eigentlich keine richtige Hilfe erreicht. Wir haben die Stadt mit eigenen Mitteln verlassen. Diejenigen, die bleiben mussten, warten in ihren Autos. Ständig passieren Nachbeben. Ich habe von Leuten gehört, dass es allmählich stinkt in den Städten. In den Nachrichten heißt es, dass sich jetzt Krankheiten und Seuchen ausbreiten können. Was passiert mit den Leichen, die nicht geborgen werden können? Werden sie langsam verwesen? Was macht das mit den Rettungskräften? Diese Helden, ob aus dem In- oder Ausland, müssen nach Abschluss der Rettungs- und Bergungsarbeiten ausreichend entschädigt werden. Ihr Aufwand ist nicht zu bemessen. Ihr Wert für dieses Land ist so kostbar. Ich bin jeder helfenden Hand dankbar.“

Wie fühlen Sie sich jetzt? Können Sie nachts ruhig schlafen?

„Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, fühlt es sich an, als würde der Boden unter meinen Füßen wackeln. Ich habe seither keinen ruhigen Schlaf mehr. Selbst wenn ich am Körper zittere, glaube ich, dass es wieder bebt. So viele Gesichter, die ich noch vor ein, zwei Tagen gesehen habe, gibt es nicht mehr. Wir sind psychisch vermutlich nicht mehr besonders intakt. Wenn ich es mir leisten kann, möchte ich in einigen Monaten gerne zu einem Psychologen gehen.“

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

„Es bleibt einem nichts anderes übrig, als weiterzumachen. Egal wie, es geht weiter. Wir sind glimpflich davongekommen. Es hätte auch Tote in unserem nächsten Umfeld geben können. Wir haben überlebt. Das ist ein Segen. Ich mag mir nicht ausmalen, wie es wäre, wenn einer meiner Liebsten unter den Trümmern zurückgeblieben wäre. Ich hätte Osmaniye doch nicht verlassen können. Aber als Immobilienmakler stelle ich mir dir Frage, ob ich das in Zukunft noch machen kann. Wir haben Gebäude inseriert, die eingestürzt sind. Woher soll man das auch wissen? Wenn die Behörden ihre Arbeit nicht machen, nimmt man für Wohnungen Verantwortung auf sich. Man vermarktet diese und dann? Ich denke, für mich ist die Sache erledigt. Als Makler will ich in Zukunft nicht mehr arbeiten. Jetzt muss ich zusehen, eine andere Beschäftigung zu finden. Wenn sich eine Möglichkeit ergibt, würde ich vielleicht sogar nochmal studieren. So alt bin ich zum Glück noch nicht. Aber es muss finanzierbar sein. Zu viele offene Fragen zum jetzigen Zeitpunkt. Unsere Zukunft ist ungewiss.“

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