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Politik

Lage gerät außer Kontrolle: Türkische Stadien fordern den Rücktritt der Regierung

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Am Samstag bestreitet der türkische Traditionsverein Fenerbahçe Istanbul in Kayseri das nächste Ligaspiel und muss dabei wohl auf die Unterstützung durch seine Fans verzichten, die aus „Sicherheitsgründen“ ausgeladen wurden. Eine Konsequenz für ihre an die Regierung gerichtete Rücktrittsforderung im Spiel gegen Konya?

Gemeinsam mit den anderen beiden Sportvereinen Galatasaray Istanbul und Beşiktaş JK bildet Fenerbahçe eine der größten Zivilgemeinschaften der Türkei. Alle drei Mannschaften verfügen etwa über die gleiche Anzahl an Fans: rund 20 Millionen. Welches politische Potenzial diese Größe entfalten kann, haben die Anhänger der Kanarien von Kadıköy bereits oft genug vorgeführt. Grund genug für die türkische Regierung, gefüllte Ränge der drei Top-Clubs von Istanbul zu fürchten. Denn wie am letzten Wochenende wieder sichtbar wurde, sind die Stadien eine der letzten Orte für kollektiven Protest gegen die Regierung aus AKP und MHP.

„HÜKÜMET İSTİFA“: Fenerbahçe-Fans wollen Rücktritt der Regierung

Beim Nachholspiel gegen Konyaspor (4:0) hatten die Anhänger von Fenerbahçe das Stadion zum Beben gebracht. Diesmal ging es aber nicht nur um Fußball. Von den verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei und deren Folgen angestiftet, wurde das erste offizielle Fußballspiel seit der Katastrophe zur Demonstration gegen die türkische Regierung genutzt.

Knapp 50.000 Fans skandierten geschlossen: „Lügen Lügen Lügen, Lügen über Lügen, es sind nun 20 Jahre vergangen, tritt zurück!“ (türkisch: „Yalan yalan yalan, dolan dolan dolan, 20 sene oldu, istifa ulan!“)

Auch Beşiktaş-Fans für Rücktritt der Regierung

Neben dieser kreativen Passage wurde phasenweise auch nur „Hükümet istifa“ gerufen, also die bloße Forderung zum Rücktritt der Regierung. Ähnliche Szenen spielten sich am nächsten Tag im Stadion von Beşiktaş JK ab.

Bei der Partie gegen das von Nuri Şahin trainierte Antalyaspor warf das Publikum zunächst Spielsachen für die jüngsten Opfer der Erdbeben aufs Spielfeld. Und noch vor Anpfiff kam es dann zu einer ähnlichen Situation wie bei Fenerbahçe. Die Fans von Beşiktaş forderten: „Hükümet istifa!“

Kritik an der Regierung geht viral und steckt an

Diese Proteste wurden in kürzester Zeit in den sozialen Medien zum Trending Topic. Vielen haben die protestierenden Fans offenbar aus der Seele gesprochen. In der Türkei sind seit den Gezi-Park-Protesten 2013 Schritt für Schritt kritische Stimmen verstummt.

Sobald sich ernste Kritik gegen die AKP und ihre Regierungspartner formiert, wird mit Gewalt reagiert und auf höchster Ebene gedroht. Die Türkei ist mittlerweile ein Polizeistaat, die mit ihrer teils grausamen Gangart die Bevölkerung zu einer eingeschüchterten Haltung erzogen hat.

Prominente unterstützen die Proteste trotz Gefahr

Dennoch unterstützen türkische Prominente wie der Darsteller Şahan Gökbakar die Fans. Der Ruf nach einem Rücktritt der Regierung sei kein Ungehorsam gegen den Staat. Vielmehr sei dies Ausdruck von Unzufriedenheit gegenüber den Machthabern.

„Den Rücktritt der Regierung zu fordern bedeutet, ich mag diese Regierung nicht. Das ist das Recht des Volkes. Sie kommen nur bei Fußballspielen zusammen. Deshalb skandieren sie dort, das ist normal.“ Doch die Regierung versteht sich mehr denn je als der Staat selbst. Das zeigen die jüngsten Aussagen von Devlet Bahçeli von der MHP.

Devlet Bahçeli von nun an für Karagümrük

Wie ein beleidigtes Kind verkündete der Greis, dessen Partei Bündnispartner der AKP ist, sein Aus als Anhänger von Beşiktaş JK. „Dieser Rücktritt ist verantwortungsbewusstes Handeln gegenüber den Erdbebenopfern. Von nun an bin ich Fan von Karagümrük“, so Bahçeli, der in seiner Rede alle Protestierenden zu Staatsfeinden erklärte. Im selben Atemzug bedrohte der politische Anführer der Grauen Wölfe die Fußballvereine. Diese seien Teil eines Komplotts.

Neue Stadien in Anatolien als AKP-Symbole

Die aktuelle Regierung hat in den letzten zwei Jahrzehnten mit großen Bauprojekten die Türkei modernisiert. Autobahnen, Flughäfen, Krankenhäuser, aber auch Wohnraum für die Zivilbevölkerung gehören zu den sichtbaren Spuren der AKP. Doch mit den Erdbeben im Südosten der Türkei ist auch die Diskussion darüber entfacht, wie die türkische Regierung und ihre Günstlinge besonders mit Bauprojekten Vetternwirtschaft betreiben.

Offensichtlich auch auf Kosten von stabilen Gebäuden, die Zehntausenden das Leben kosten. Die neuen Fußballstadien in Anatolien gehören zu den sichtbaren Zeichen der AKP. Schwache Vereine profitieren unter anderem von größeren Einnahmen durch mehr Stadionbesucher.

Kayserispor hat Bedenken: Fenerbahçe-Fans unerwünscht

Selbst wenn viele Mannschaften gar keine entsprechenden Fan-Gemeinschaften haben. Kayserispor gehört zu den anatolischen Mannschaften, die durchaus eine eigene Fan-Base haben. Dennoch füllt sich das Stadion nur dann restlos, wenn eine der drei großen Mannschaften aus Istanbul nach Kayseri reist.

Doch nach den letzten Protesten in den Stadien von Fenerbahçe und Beşiktaş sowie der heftigen Reaktion türkischer Regierungsmitglieder darauf hat der Club nun die Anhänger von „Fener“ vom Spiel am 4. März ausgeladen. Der Sicherheitsrat der Stadt habe Bedenken geäußert, die zu dieser Konsequenz geführt hätten. Die Initiative sei aber vom Verein ausgegangen.

Fenerbahçe auch außerhalb von Istanbul eine Macht

Der für seine Nähe zu Fenerbahçe bekannte Journalist Ahmet Ercanlar schrieb via Twitter, dass dieser Vorgang bedenklich und ein großer Fehler sei. „Dieser Fehler wird die Menschen nur noch weiter provozieren“, so Ercanlar.

Der wohl berühmteste türkische Anchorman Ugur Dündar (79) und Vorsitzender des Hohen Rates von Fenerbahçe Istanbul meldete sich auch drastisch zu Wort. „Noch besser wäre es, das sie Fußball komplett verbieten“.

Personalisierte Tickets, um Proteste in Stadien zu minimieren

Die Proteste gegen seine Regierung in Stadien bereits im Vorfeld im Keim ersticken: Das ist seit Jahren die Strategie der türkischen Regierung um Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan.

Als kurz vor den Kommunalwahlen 2014 die Umfragewerte der AKP sanken, wurde besonders in den Fußballstadien von Fenerbahçe und Beşiktaş Stimmung gegen die Regierung gemacht. Um diese zu kappen, wurden mitten in der Saison unmittelbar vor dem Derby zwischen Beşiktaş und Fenerbahçe am 14. April 2014 personalisierte Tickets eingeführt.

Beşiktaş und Fenerbahçe gegen die Regierung, was ist mit Galatasaray?

Das hatte zur Folge, dass von rund 76.000 potenziellen Fans nur ca. 15.000 ins Atatürk-Olympiastadion kamen. Daraufhin skandierten sie: „Schlaf nicht ein Vorstand, deine Fans sind draußen geblieben“.

Der Grund war, dass die personalisierten PasoLig-Karten nur durch die Heimmannschaft organisiert wurden und Beşiktaş nicht die Kapazität hatte, in kürzester Zeit mehr als 70.000 Karten auszustellen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass so viele Fans so kurzfristig kein PasoLig beantragen konnten.

Keine Proteste von Galatasaray im Spiel gegen Alanyaspor

Die Augen waren nach den Spielen von Fenerbahçe und Beşiktaş auf die Partie zwischen Alanyaspor und Galatasaray gerichtet. Bei dem Freundschaftsspiel im Stadion von Alanya gab es keine direkten Rufe nach einem Rücktritt der Regierung.

Doch die Fans skandierten eine Zeit lang geschlossen „Wie schön ist es, ein Türke zu sein“, also den Spruch Atatürks, der das Gefühl von Einheit und Geschlossenheit symbolisieren soll. Kritiker nationalistischer Züge der Republik sehen in diesem Satz aber eine Diskriminierung von Personen anderer ethnischen Zugehörigkeiten, wie beispielsweise den Kurden und Armeniern.

Anatolische Vereine: „Wir stehen hinter dem Staat“

Devlet Bahçeli forderte von Fenerbahçe Istanbul und Beşiktaş JK, bei kommenden Spielen die Fans im Zaun zu halten. Andernfalls müssten die Partien künftig ganz ohne Zuschauer auskommen. Daraufhin folgten reihenweise Erklärungen einiger anatolischer Vereine, die deutlich machten, dass sie hinter dem Staat stehen.

Es sei kein guter Zeitpunkt für Kritik, Fußball kein Schauplatz für politische Diskussionen. Dieser Vorstoß kam von Kayserispor, Alanyaspor, Rizespor und Konyaspor. Clubs von Städten, die allesamt bekannte Hochburgen der AKP sind.

Fenerbahçe- und Beşiktaş-Vorstände nicht so mutig wie der eigene Anhang?

Fenerbahçe-Sturmlegende Serhat Akın setzte am Montag mit einem Tweet ein Zeichen. Dabei schrieb er nur ein R in seinem Tweet. Doch jedem war sofort klar, dass der einstige Neuner die gemeinsame Erklärung der Union türkischer Fußballvereine (Türkiye Kulüpler Birliği) als Rückzieher deutete.

Aktuell ist der Vereinspräsident von Fenerbahçe, Ali Koç, gleichzeitig Vorsitzender dieses Verbundes. Die Erklärung lässt sich inhaltlich genauso lesen wie die Unterstützungsbotschaften der anatolischen Vereine.

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