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Mehr als „nur“ Weihnachten: Die etwas buntere Adventszeit in einer multireligiösen Kita
Sterne am Fenster, selbst gebastelte Nikoläuse und vier Kerzen im Morgenkreis – viel mehr Weihnachten ist nicht in der Pforzheimer Kindertagesstätte Irenicus. Die Adventszeit ist hier bunter. In der bundesweit ersten Kita mit multireligiösem Schwerpunkt und Trägern unterschiedlicher Religionen sollen christliche, muslimische, jesidische und jüdische Kinder ihren Glauben gleichberechtigt leben können.
Rote, blaue, gelbe und orangefarbene Tücher liegen auf dem Teppich im Morgenkreis. Vier Bilder mit Kreuz, Halbmond, Stern und Pfau symbolisieren die unterschiedlichen Religionen. Ein kunstvoll gefalteter rot-weißer Papierstern neben dem Engel-Pfau weist darauf hin, dass eine große Feier ansteht.
„Ich feiere Ramadan“
Am 16. Dezember findet in der Kita Ida Ezi, das jesidische Fest zu Ehren Gottes, statt. Was passiert da? Weiß das jemand? Die Erzieherin schaut in die Runde von zehn Kindern. Einem jesidischen Mädchen fällt da vor allem eines ein: Es wird gebacken. Dattelgebäck und Baklava zum Beispiel. Davor wird allerdings gefastet.
Fasten kennt auch ein Vierjähriger aus seiner Familie. Zu welcher Religion er gehört, kann er nicht sagen. Aber eines weiß er ganz genau: „Ich feiere Ramadan.“ Der Knirps kann exakt vormachen, wie man betet. Er geht auf die Knie und beugt seinen Kopf tief zu Boden. Und in welcher Religion wird vor Weihnachten jede Woche ein neues Lichtlein entzündet?
„Es ist Christus“
Einige Finger schnellen in die Höhe. „Es ist Christus“, sagt ein Mädchen. Wie Christen beten, führt eine Sechsjährige vor. Was Erzieherin Adisa Gojak immer wieder aufs Neue beeindruckt, ist das selbstverständliche Miteinander der Kinder. Nach dem Morgenkreis sausen die Kids der „grünen“ Gruppe ein Stockwerk tiefer zu den anderen.
Sie bauen zusammen hohe Holztürme, falten Papierschiffe oder malen. „Es ist nicht alles gleich auf der Welt. Kinder erleben das jeden Tag. Ziel ist es, sich offen zu begegnen“, sagt Kita-Leiterin Nathalie Pilarek. Unterschiede sollen sein, Grenzen nicht. Seit März 2020 läuft der Kita-Betrieb. Der Corona-Lockdown hatte den Start ausgebremst.
„Das Angebot wird angenommen“
Aus den zunächst zwei sind inzwischen vier Gruppen mit 70 Kindern geworden. Geplant ist ein Ausbau auf sechs Gruppen mit 100 Kindern. „Das Angebot wird gut angenommen“, sagt Sabine Ghafoor-Zadeh von der Diakonie Pforzheim. Sie vertritt einen der Träger und war mitverantwortlich für den Aufbau der Kita Irenicus.
Dass in der Kindertagesstätte die Religion jedes Kindes einen gleichberechtigten Stand haben soll, habe die Eltern überrascht. Und auch gefreut, berichtet Ghafoor-Zadeh. Die meisten hätten einfach einen Kindergartenplatz gesucht. Es traf sich gut, dass die Kita in einem Stadtteil ist, in dem viele Menschen mit unterschiedlicher Religion leben.
Jüdische Kinder bislang nicht dabei
Die meisten Kita-Kinder sind Muslime, gefolgt von Jesiden, katholischen, evangelischen und orthodoxen Christen und Konfessionslosen. Jüdische Kinder sind bislang nicht dabei. Deren Religion wird den Kleinen aber auch nahe gebracht.
Die Kita Irenicus wird von der evangelischen und katholischen Kirche, von Diakonie und Caritas, dem Bündnis unabhängiger Muslime im Enzkreis, der Jüdischen Gemeinde Pforzheim und dem Yezidischen Zentrum in Baden-Württemberg getragen. Ziel ist, dass sich schon von Anfang an eine Haltung entwickelt, die den Glauben der anderen ernst nimmt und wertschätzt.
„Wir waren nur noch am Feiern“
Inwiefern das gelingt und welche Erfahrungen gemacht werden, untersucht eine begleitende Studie der Universität Tübingen. Schon jetzt ist Bemerkenswertes entstanden. So haben die Kinder, die im Sommer in die Schule kamen, den Segen gleich von drei Seiten bekommen: Von einer christlichen Diakonin, einem muslimischem Vertreter und einem jesidischen Geistlichen.
Muslime und Weihnachten: Fällt man vom Glauben ab, wenn man Plätzchen backt?
„Die Reaktion der Eltern, als sie merkten, sie sind auch vertreten mit ihrer Religion, war ein Erlebnis“, erinnert sich Ghafoor-Zadeh. Ursprünglich wollte das pädagogische Team in der Kita übrigens alle Feste der Religionen groß feiern. Nach dem ersten Jahr merkten die Erzieher aber: „Wir waren nur noch am Feiern – und die Kinder waren überfordert. Sie konnten die Religionen danach nur schwer auseinanderhalten“, so Pilarek.
„Puppenhaus“ mit Jesus und Maria fanden alle toll
Nun gibt es jedes Jahr einen anderen Schwerpunkt. 2022/23 ist das jesidische Jahr, nach einem muslimischen und christlichen Fokus in den Vorjahren. Die hohen Feste der anderen Religionen werden allerdings auch im jesidischen Jahr berücksichtigt. Die Kleinen nehmen das ohnehin nicht so genau.
Einen Adventskalender hat fast jeder zu Hause. Und das „Puppenhaus“ mit Jesus und Maria und den vielen Tieren fanden alle toll. Die Weihnachtskrippe konnten die Älteren kürzlich in der Schlosskirche anschauen.
dpa/dtj