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Politik

Presseschau: Wie sich die deutsche Öffentlichkeit bei den Wahlen in der Türkei irrte

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Deutsche Medien und Experten unterschätzten entscheidende Tendenzen bei den Türkei-Wahlen. Präsident Erdoğan mobilisierte erfolgreich, Oğan-Wähler könnten seine Position weiter stärken.

Bezüglich der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei am vergangenen Sonntag hatten schon im Vorfeld nicht alle deutschen Medien und Türkei-Experten die wesentlichen Tendenzen auf dem Schirm, die sich am Wahlabend zeigten. Einige hatten erkannt, dass dem Lager um Präsident Recep Tayyip Erdoğan in den Wochen vor der Wahl eine kaum noch für möglich gehaltene Mobilisierung gelungen war. Allerdings hatte ihm – im Einklang mit den meisten unabhängigen Umfrageinstituten – kaum jemand zugetraut, deutlich vor Kemal Kılıçdaroğlu zu landen und der 50-Prozent-Marke so nahe zu kommen, wie er es am Ende tat.

Viele hatten offenbar auch Vorbehalte in der Wählerschaft unterschätzt, die sich zu Ungunsten von Kılıçdaroğlu auswirkten. Dazu gehörten neben alten Traumata aus kemalistischen Zeiten auch Faktoren wie der Wahlaufruf vonseiten der HDP. Dass viele Wählerinnen und Wähler, die grundsätzlich einen Wandel wollten, aus diesem Grund Kılıçdaroğlu nicht die Stimme gaben, hat zweifellos auch zum überraschend hohen Stimmenanteil für Sinan Oğan beigetragen.

Vor dem hohen Pro-Erdoğan-Anteil unter türkischen Wählern in Deutschland und einigen anderen mitteleuropäischen Ländern hatten Serap Güler und einige andere Bundestagsabgeordnete „gewarnt“ und betont, dass grüne Wahlaufrufe gegen den türkischen Präsidenten eine Trotzreaktion hervorrufen könnten.

Viele deutsche Medien und Experten waren auch davon ausgegangen, dass die Erdbebenkatastrophe vom Februar Erdoğan schaden werde, zumal die AKP ein Amnestiegesetz für Schwarzbauten erlassen habe. Allerdings war dies fraglich, da die durch die Erdbeben zerstörte Bausubstanz überwiegend aus den 1960er und 70er Jahren stammte. Es war politisch de facto nicht durchsetzbar, gegen die provisorischen Bauten vorzugehen, die im Zuge der Landflucht in den größeren Städten entstanden waren.

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NZZ: „Strukturelle, religiös-nationalistische Mehrheit“

Angesichts des Wahlergebnisses, das Erdoğan zum Favoriten für die Stichwahl macht und seinem Lager die Parlamentsmehrheit sichert, begeben sich die Experten auf die Suche nach dessen Ursachen. Die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) beispielsweise sieht eine klare strukturelle Mehrheit für religiöse und nationalistische Kräfte im Land:

„Die Ergebnisse vom Sonntag bestätigen die Faustregel, dass Wahlen in der Türkei rechts der Mitte gewonnen werden. Nationalistische und religiös-konservative Kräfte verfügen über eine strukturelle Mehrheit im Land, der selbst mit einem breiten Bündnis, wie es Kılıçdaroğlu geschmiedet hatte, nur schwer beizukommen ist.

Der Achtungserfolg von Sinan Oğan und das gute Abschneiden der MHP, der beträchtliche Stimmenverluste vorausgesagt worden waren, dürften den Einfluss des nationalistischen Lagers auf die türkische Politik in den kommenden Jahren noch weiter verstärken. Dies rückt auch die İyi-Partei in den Fokus, die im Oppositionsbündnis das nationalkonservative Spektrum abdeckt.“

Die NZZ sieht Erdoğan als klaren Favoriten für die Stichwahl, da das Modell einer „Kohabitation“ die türkische Bevölkerung kaum anspreche, bei der ein Präsident ohne parlamentarische Rückendeckung agiert. Außerdem würden Oğan-Wähler aus der ersten Runde eher zur AKP und deren nationalistischen Partnern wie MHP oder BBP neigen.

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FAZ: „Bürger trauen Kılıçdaroğlu im Zweifel noch weniger zu“

In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) rechnet der Demoskop Özer Sencar ebenfalls mit einem Sieg Erdoğans im zweiten Durchgang. Er wirft die Frage auf, warum auch die schlechteste Wirtschaftslage seit 30 oder 40 Jahren den regierenden Parteien nicht geschadet habe. Dabei erklärt sich Sencar dies ebenfalls mit nationalistischen und antiwestlichen Ressentiments.

Viele würden die USA oder die Europäer verdächtigen, die Krise zu schüren, um die Türkei zu unterwerfen oder sie zumindest zu schwächen. Zudem trauen sie dem mit permanenter Erfolglosigkeit assoziierten Kılıçdaroğlu im Zweifel noch weniger als Erdoğan zu, die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen. Ähnlich verhalte es sich mit Blick auf das Erdbeben: „Ähnlich sieht es beim Erdbeben aus. Der Grund, warum dieses Erdbeben so große Schäden verursacht hat, ist der Staat. Aber die Bürger machen Erdoğan dafür nicht verantwortlich.“

„taz“: Opposition muss psychologischen Tiefschlag wegstecken

Die „taz“ gibt demgegenüber die Hoffnung nicht auf, dass Kılıçdaroğlu in der Stichwahl das Wunder schaffen und Erdoğan überrunden könnte. Jürgen Gottschlich schreibt: „Erst einmal richtet sich jetzt der Blick nach vorn. Wenn die Opposition noch eine Chance haben will, muss sie den psychologischen Tiefschlag der ersten Runde nun schnell überwinden und noch einmal alles mobilisieren, was auf die Beine gebracht werden kann.“

Dabei solle man sich auch nicht scheuen, von einer „gestohlenen Wahl“ zu sprechen – vor allem in Anbetracht der medialen Macht der Regierenden und der unablässigen Propaganda vom „Kampf der Gläubigen gegen die Gottlosen“. Um Erdoğan besiegen zu können, müsse jedoch „der Vorsprung vor dem amtierenden Präsidenten schon so überzeugend sein, dass er auch durch Manipulationen bei der Auszählung nicht mehr weginterpretiert werden kann“.

Deniz Yücel: „Bündnis gegen die Frauen und den Laizismus“

In der „Welt“ bezeichnet es Deniz Yücel als „niederschmetternd“, dass ein „beachtlicher Teil der Türken Erdoğan trotz desaströser Regierungsbilanz als Heilsbringer“ betrachte. Zwar habe die AKP ihr schwächstes Ergebnis seit ihrem ersten Antritt im Jahr 2002 erzielt. Aber es gelinge ihr, mit „Hass und Hetze“ zu mobilisieren und dabei scheue sie nicht einmal ein Bündnis mit der Nachfolgeorganisation der terroristischen Hisbollah.

Auch sonst hätten sich die Unzufriedenen nicht für Kılıçdaroğlu und seine liberalen Bündnispartner entschieden, sondern für ultranationalistische und ultrareligiöse Parteien. Es sei „ein Bündnis gegen die Frauen und gegen den Laizismus, das die absolute Mehrheit im Parlament errungen hat“.

Serap Güler: Ergebnis „kein gutes Zeichen“

Die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler hat in einem Gespräch mit dem SWR das Wahlergebnis als „kein gutes Zeichen“ bezeichnet. Positiv sei immerhin, dass beide Lager die Stichwahl akzeptieren. Allerdings seien die Siegeschancen für Kılıçdaroğlu mit Oğan als Königsmacher gering: „Dass diese Stimmen nun an Kılıçdaroğlu und die Opposition gehen, ist nicht sehr wahrscheinlich.“

Gegenüber RBB äußerte Güler, sie könne sich „Erdoğans Beliebtheit ehrlicherweise nicht erklären“. Als einzig logische Erklärung falle ihr angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage nur „blinde Gefolgschaft“ ein. Insgesamt gehe „ein Riss durch die Gesellschaft“.

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Michael Roth: Wahlen „frei, aber nicht fair“

SPD-Außenpolitiker Michael Roth sprach im ZDF-„Morgenmagazin“ von einem „ernüchternden Ergebnis“. Viele hätten gehofft, dass die Opposition stärker aus der ersten Wahl hervorgehe. Die Wahlen „mögen frei gewesen sein, aber sie waren eben nicht fair“, weil Erdoğan staatliche Einrichtungen und Medien zu seinen Gunsten nutze. Er werde den Wahlkampf für die Stichwahl „mit aller Härte“ führen, und „weiter versuchen, den Oppositionskandidaten zu diskreditieren und seine Glaubwürdigkeit zu schwächen“, so Roth.

Burak Çopur sieht schlechten Tausch für Kılıçdaroğlu

Burak Çopur äußerte sich ebenfalls im ZDF zu den Aussichten für die Stichwahlen. Oğan werde zum Königsmacher, und Erdoğan werde, um dessen Wähler zu ködern, eine „antikurdische und flüchtlingsfeindliche Programmatik bedienen“. Auch Kılıçdaroğlu habe sich im Wahlkampf massiv gegen syrische Flüchtlinge geäußert, allerdings mit Blick auf die Kurden in der Türkei für einen integrativeren Kurs geworben.

Oğan habe jedoch bereits eine klare Abgrenzung von der HDP zur Bedingung für eine Unterstützung Kılıçdaroğlus gemacht. Für diesen wäre der Schritt allerdings ein schlechter Tausch, denn diese habe unter dem Banner der Grünen Linkspartei immerhin neun Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen auf sich vereinigt. Zudem würden Oğans Anhänger aus ideologischen Gründen eher Erdoğan zuneigen. Dessen Partei habe ihre Wurzeln in der Idealistenbewegung und sei eine Abspaltung der MHP. Zudem werde der Aleviten-Faktor Kılıçdaroğlu insbesondere in diesem Spektrum schaden.

Kristian Brakel: „Wo sollen die Stimmen für die Opposition herkommen?“

Kristian Brakel, der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, geht auch davon aus, dass sich die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zu Ungunsten von Kılıçdaroğlu auswirken würden. Erdoğan werbe schon jetzt mit „Sicherheit und Stabilität“, und auch wenn Kılıçdaroğlu per Präsidialdekret regieren könnte, würde dies seinem eigenen Bekenntnis zuwiderlaufen, das „undemokratische“ Präsidialsystem abschaffen zu wollen.

Brakel weist darauf hin, dass Erdoğan nur wenige Stimmen bis zur absoluten Mehrheit fehlten. Er gehe mit fünf Prozent Vorsprung in die Stichwahl. Da stelle sich die Frage: „Wo sollen denn diese fünf Prozent oder sogar ein bisschen mehr für die Opposition herkommen?“ Daher sei „die Wahrscheinlichkeit, dass uns am Ende doch Erdoğan erhalten bleibt, […] sehr groß“.

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