Gesellschaft
Türkei unter Schock: Bahçeli lädt PKK-Chef Öcalan ins türkische Parlament ein

Politische Zeitenwende in der Türkei? Ausgerechnet der Chef der ultranationalistischen Partei MHP, Devlet Bahçeli, hat am Dienstagvormittag den Anführer der Terrororganisation PKK ins türkische Parlament eingeladen. „Falls die Isolation des Terroristenführers aufgehoben wird, soll er kommen und in der Fraktionssitzung der DEM-Partei im türkischen Parlament sprechen, um zu verkünden, dass der Terror vollständig beendet ist und die Organisation aufgelöst wurde.“ Anschließend sprach Bahçeli vom sogenannten „umut hakkı“ (Recht auf Hoffnung). Dies kann man mit der sogenannten „guten Führung“ in deutschen Gefängnissen vergleichen, was in diesem Fall letztlich dazu beitragen könnte, dass der in lebenslanger Haft sitzende Öcalan entlassen werden könnte.
Dieses Statement sorgte in der Türkei für großes Aufsehen. Schließlich vereinte Bahçeli als Chef der nationalistischen Partei MHP in den letzten Jahrzehnten viele Stimmen, die sich gegen die PKK stellten. Aus Fraktionssitzungen oder Wahlkampfreden kannte man Bahçeli mit harschen, teils schwer verständlichen Worten gegenüber seinen Kritikern. Spätestens seit 2018 gilt er als inoffizieller Partner der türkischen Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Auch in Deutschland kann die MHP auf eine große Anhängerschaft zählen, die sich teilweise bei den rechtsextremen „Grauen Wölfen“ oder in der „Ülkücü-Bewegung“ zusammenfindet. Diese werden vom deutschen Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft, da deren Ideologie Elemente wie Rassismus und die Überhöhung des Türkentums beinhaltet.
Öcalan: Ein Symbol des Terrors
Bislang galt Bahçeli als größter Widersacher der PKK und deren im Jahr 1999 im Rahmen einer Geheimoperation in Kenia festgenommenen Anführer und Gründer Abdullah Öcalan. Seit über 40 Jahren hält der Konflikt mit der kurdischen Terrororganisation an, auch wenn seine Hochphase länger zurückliegt. Zehntausende Menschen fielen ihm zum Opfer. Öcalan wird nicht nur für die Tötung von Tausenden Soldaten und Polizisten verantwortlich gemacht, sondern auch für viele Anschläge in türkischen Großstädten sowie Waldbrände. Derzeit sitzt Öcalan seit 1999 in Haft auf der Insel Imralı im Marmarameer.
Vor diesem Hintergrund kommt die Aussage Bahçelis mehr als überraschend. Die Meinungen dazu gehen stark auseinander. Während einige ihre Fassungslosigkeit kundtun und den in die Jahre gekommenen Politiker an den Pranger stellen, sehen andere einen wichtigen Ansatz und werten dies sogar als Zeitenwende in der Lösung des Konflikts mit der PKK. Auf Twitter kursieren bereits einige Fotos, in denen zu sehen ist, wie MHP-Anhänger ihre Parteimitgliedschaften kündigen.
Dündar: „Bahçeli muss verzweifelt sein“
Der im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar sieht in Bahçelis Worten eine Art Verzweiflung: „Wenn diese Aussage der CHP-Vorsitzende getroffen hätte, würde er jetzt massiv kritisiert werden. Dass Bahçeli an diesen Punkt gelangt ist, hat auch etwas mit Verzweiflung zu tun. Nach 40 Jahren ist man an dem Punkt angekommen, zu sagen: ‚Lasst Öcalan kommen und es lösen.’“
İsmail Saymaz fand die bisherige Reaktion der türkischen Bevölkerung überraschend. Auf X schrieb der bekannte Journalist: „Was wäre passiert, wenn die heutige Aussage von Özgür Özel (Anm. d. Red.: Vorsitzender der CHP) gekommen wäre und er den İmralı-Aufruf von Devlet Bahçeli gemacht hätte?“ Damit wies er auf den selben Punkt wie Dündar hin.
Mansur Yavaş, CHP-Bürgermeister der Hauptstadt Ankara, erklärte: „Unser größter Wunsch ist es, dass Frieden und Ruhe in diesem Land herrschen. Aber der Weg dorthin ist auf keinen Fall, den Terroristenführer unter dem Dach unseres ehrenwerten Parlaments sprechen zu lassen. Das Volk und die Geschichte werden dies nicht verzeihen.“
Scharfe Worte von nationalistischer Seite
Doğu Perinçek, Parteivorsitzender der linksnationalistischen Vatan-Partei, verurteilte Bahçelis Auslassung: „Devlet Bahçeli hat sich in einen Plan zur Zersplitterung des türkischen Volkes begeben. Es gibt nichts mehr, was das türkische Volk von ihm erwarten kann. Er ist nun die Hoffnung der USA und Israels.“
Auch der Abgeordnete der Demokratischen Partei, Cemal Enginyurt, kritisierte die den Vorstoß scharf. Solange er im Parlament sitze, würde er einen Auftritt Öcalans nicht zulassen, schrieb er auf X.
Wie reagiert die DEM?
Die prokurdische DEM-Partei begrüßte hingegen die Aussagen. Die DEM vertritt diese Meinung schon seit längerer Zeit und fordert, dass Öcalan im Parlament auftritt, um eine Rede zu halten. Den ersten überraschenden Schritt in Richtung der Nachfolgepartei der HDP hatte Bahçeli bereits vor einigen Wochen gemacht, als der MHP-Führer sich vor die Reihen der DEM-Partei gestellt und per Handschlag die Abgeordneten begrüßte. Bereits dies galt als Tabubruch und Zeichen einer ersten Annäherung nach Jahren des Stillstands. Spätestens nach seiner heutigen Rede dürfte nun eine Zeitenwende begonnen haben.
Die ungelöste „Kurden-Frage“
Die sogenannte „Kurden-Frage“ zieht sich schon seit der Gründung der Republik Türkei hin. Mehrere türkische Regierungen, unter anderem Turgut Özal (1993) oder Süleyman Demirel (1996), hatten Versuche unternommen, die Frage anzugehen und eine Versöhnung zwischen den beiden größten Volksgruppen in der Türkei herbeizuführen, doch das türkische Militär stellte sich dagegen. Fragt man die Menschen auf der Straße, gibt es sowieso kein Problem zwischen Kurden und Türken. Doch die Realität sieht meist anders aus. Vor allem kulturell werden die Kurden oftmals benachteiligt. Der amtierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan führte damals noch in seiner Rolle als Ministerpräsident zwischen 2013 und 2015 direkte Verhandlungen mit der PKK, um den Konflikt durch demokratische Reformen zu lösen. Da dies damals aber türkische Rechtsextreme stärkte und Erdoğans AKP die absolute Mehrheit im Parlament verlor, brach Erdoğan die Verhandlungen wieder ab.