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Politik

Cevheri Güven: „Erdoğan will İmamoğlu um jeden Preis verhindern“

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Ekrem İmamoğlu ist der erste Politiker, der gegen die Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gleich zwei Mal eindrucksvoll Wahlen gewonnen hat. Nun wird ihm das zum Verhängnis. Denn laut dem in der Türkei gesuchten Exil-Journalisten Cevheri Güven ist Erdoğan bei diesem Thema besonders empfindlich. Grund dafür: „Erdoğan hat große Angst vor İmamoğlu“.

DTJ: Herr Güven, aktuell ist die heiße Phase des Wahlkampfs in der Türkei endgültig eingeläutet. Was erwartet die Bevölkerung und die Öffentlichkeit?

Güven: Ein Blick auf die vorangegangenen Wahlkampfphasen in der Türkei zeigt uns unmissverständlich, dass nahezu nichts vorherzusehen ist. Zwar bahnte sich das Vorgehen gegen den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu schon vorher an. Doch der Ausgang der Gerichtsverhandlung scheint die Opposition und die Bevölkerung dennoch überrascht zu haben.

DTJ: Es sind erstaunliche Parallelen zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Ekrem İmamoğlu zu erkennen. Ende der 90er Jahre war Erdoğan Oberbürgermeister von Istanbul, ambitionierter Kandidat der Opposition und wurde zudem aufgrund eines Gedichts mit einer Haftstrafe und einem Politikverbot belegt. Über 20 Jahre danach ist Ekrem İmamoğlu Oberbürgermeister von Istanbul, gilt als aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2023 und wurde jetzt auch noch zu einer Haftstrafe verurteilt und mit einem Politikverbot belegt. Ist das noch Zufall?

Güven: „In der Türkei wird aktuell diese Verschwörung flächendeckend verbreitet. Sowohl in den Reihen der regierenden AKP und ihren offiziellen wie inoffiziellen Bündnispartnern, als auch bei der angegriffenen Opposition. Während die AKP davon spricht, dass man durch die Parallelen mit dem Aufstieg der AKP und Erdoğan Anfang der 2000er Jahre und Ekrem İmamoğlu heute einen neuen „Helden“ kreieren wolle, sieht die Opposition ein eindeutiges Zeichen für den neuen „Leader“, der nun wegen dieser unfairen Behandlung die Gunst des Volkes auf seine Seite ziehen und so gegen Erdoğan ein drittes Mal siegen wird. Aus meiner Sicht sind beide Versionen einfach falsch. Man muss nur einen Blick auf die Fakten und die Verbindungen der Entscheidungsträger hinter der Verurteilung von İmamoğlu werfen. Dann wird alles ganz schnell recht eindeutig.“

DTJ: Von welchen Fakten sprechen Sie?

Güven: „Zunächst möchte ich deutlich machen, dass Erdoğan große Angst hat vor Ekrem İmamoğlu, aber auch vor dem Oberbürgermeister in Ankara, Mansur Yavaş. Diese Angst resultiert zum einen davon, dass besonders İmamoğlu die AKP bei den Wahlen zur Oberbürgermeisterschaft in Istanbul gleich zwei Mal geschlagen hat. Diesen Schock hat Erdoğan nie überwunden. Außerdem verfolgt der türkische Präsident das Verhalten der Wähler und Umfragewerte genau. Er ist zu schlau um nicht zu sehen, dass seine eigenen Umfragewerte ein historisches Tief erreicht haben. Er hat längst akzeptiert, dass er die Wahlen garantiert verlieren wird, wenn das Bündnis der Opposition Ekrem İmamoğlu oder Mansur Yavaş als Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen aufstellt. Deshalb will er beide um jeden Preis verhindern. Wie rigoros Erdoğan dabei sein kann, hat er in der Vergangenheit bereits mehrfach zur Schau gestellt. Erinnern wir uns doch daran, wie er verhindert hat, dass sich der ehemalige türkische Präsident Abdullah Gül nochmal in der AKP platzieren konnte, nachdem er als Präsident abgedankt hatte. Er ließ Hakan Fidan, den Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, mit einem Kampfhubschrauber auf Güls Privatanwesen landen und ihm eine eindeutige Botschaft übermitteln. Seitdem ist Gül kein Faktor mehr und auch zu keiner mutigen Aktion mehr bereit. Die Einschüchterung hat offenbar funktioniert.“

DTJ: Gül ist aber nicht der einzige Fall oder?

Güven: „Noch drastischer ist Erdoğan gegen Selahattin Demirtaş von der HDP vorgegangen. Als die HDP bei den Wahlen 2015 eine gute Strategie entwickelt und somit die absolute Mehrheit für die AKP verhindert hat, hat der Zorn Erdoğans den pro-kurdischen Charismatiker Demirtaş maximal getroffen. Mit hanebüchenen Gründen wurde der kurdische Politiker verhaftet und schmort seit November 2016 im Gefängnis. Dabei hatte Erdoğan im Vorfeld vieles gestattet und sogar zugelassen, dass Demirtaş als Führer der HDP sich offiziell und öffentlichkeitswirksam mit Abdullah Öcalan (inhaftierter Anführer und Ideologievater der Terrororganisation PKK) trifft. Für einen gnadenlosen Erdoğan spielen solche Sachen aber keine Rolle. Er ist bereit, seine potentiellen Gegner, sobald sie für ihn gefährlich genug werden, existentiell zu bedrohen und mit allen Mitteln des Staates anzugreifen.“

DTJ: Kommen wir doch nochmal zu den Fakten im Fall von İmamoğlu zurück. Wie kam es zu dieser Verurteilung, die ja schon kurzfristig dazu führen kann, dass er seinen Posten als Oberbürgermeister von Istanbul räumen muss?

Güven: „Meine Recherchen haben ergeben, dass dieses Verfahren schon hätte wesentlich früher passieren können. Ursprünglich war der Richter Hüseyin Zengin aus dem Istanbuler Anadolu-Gerichtspalast für diesen Fall verantwortlich. Zengin und seine Ehefrau sind als AKP-nahe Personen bekannt. Doch wie aus dem Nichts wurde Zengin im Juni dieses Jahres nach Samsun am Schwarzen Meer versetzt. Das haben wir durch den Journalisten Barış Terkoğlu erfahren. Dieser veröffentlichte ein anonym geführtes Interview mit einem Richter. Darin erzählt er, dass man von ihm gefordert habe, İmamoğlu aufgrund seiner vermeintlichen Beleidigung der Wahlkommission wegen der Annullierung der ersten Wahl in Istanbul zu mehr als zwei Jahren Haft zu verurteilen, damit dieser aufgrund der Höhe des Strafmaßes ein Politikverbot bekommt. Zengin habe aber in vergleichbare Rechtsurteile geblickt und sei als ein Hüter des Rechts zu dem Ergebnis gekommen, dass der CHP-Politiker aufgrund seines Vergehens maximal zu einer sehr kurzen Strafe zu verurteilen wäre und diese Strafe im Normalfall auch nicht vollstreckt werden würde. Als er diese Meinung bekannt machte, wurde er nach Samsun versetzt. Den Fall İmamoğlu hat dann der Richter Mehdi Komşul übernommen. Ein Mann aus den Reihen der nationalistischen MHP. Derjenige, der für die Versetzung von Hüseyin Zengin verantwortlich ist, heißt Ismail Uçar, der Generalstaatsanwalt im Istanbuler Anadolu-Gerichtspalast.“

DTJ: Wie wichtig ist Generalstaatsanwalt Uçar für Erdoğan?

Güven: „Gut, noch ein, zwei Punkte zu ihm, denn es ist wichtig zu verstehen, wie weit Erdoğans Arm in die türkische Justiz reicht. Dieser Staatsanwalt war Ende 2013 dafür verantwortlich, dass die Ermittlungen gegen Mitglieder der türkischen Regierung, inklusive Recep Tayyip Erdoğan und dessen Sohn Bilal Erdoğan, restlos eingestellt wurden. Trotz zahlreicher Belege und eindeutiger Mitschnitte, in denen zu hören war, wie Vater und Sohn Erdoğan Gelder in zweistelliger Millionenhöhe aus dem Hause schafften. Danach hat Erdoğan rund 2500 Richter und Staatsanwälte versetzt oder entlassen. Nach dem sogenannten Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden Hunderte sogar inhaftiert. Die neuen Staatsanwälte und Richter sind gegenüber Erdoğan hörig und setzen um, was sich der Präsident wünscht. Also nutzt Erdoğan die Justiz als seine Waffe. Staatsanwälte wie Ismail Uçar sind dazu verschworen, Erdoğan an der Macht zu halten, koste es, was es wolle. Jetzt sollte für jeden das große Bild ersichtlich sein. Somit darf keiner mehr daran glauben, dass hinter dem Urteil gegen İmamoğlu ausländische Mächte stecken.“

DTJ: Glauben Sie, dass İmamoğlu bald ins Gefängnis kommt?

Güven: „Ob bald oder in naher Zukunft oder kurz vor den Wahlen, weiß ich nicht genau. Ich sehe an der Reaktion der Iyi-Parteivorsitzenden Meral Akşener allerdings, dass die Opposition immer noch nicht begriffen hat, wozu Erdoğan tatsächlich im Stande ist. So ist es doch eindeutig, dass der türkische Präsident İmamoğlu genau dann verhaften lassen kann, wann er will. Jetzt wartet er vermutlich erstmal die Reaktion der Opposition ab. Entsprechend wird er İmamoğlu entweder sehr bald oder kurz vor Ablauf der Bewerbungsfrist für den Wahlkampf zur Präsidentschaftswahlen 2023 verhaften lassen. So oder so wird Erdoğan nicht mehr zulassen, dass irgendein anderer als CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu gegen ihn ins Wettbewerb zieht. Kılıçdaroğlu ist Erdoğans Wunschgegner. Er betrachtet ihn als leichte Kost. Sogar die Opposition ist sich darin einig, dass Kılıçdaroğlu gegen den übermächtigen Erdoğan womöglich keine Chance haben wird. Nur wenn İmamoğlu jetzt offen verkündet, dass er nicht kandidieren wird und stattdessen all seine Mittel darauf setzt, Kılıçdaroğlu als Kandidaten zu unterstützen, könnte der CHP-Chef die Wahl gegen Erdoğan gewinnen. Das müsste meiner Ansicht nach der Plan sein. Dann würde İmamoğlu vermutlich auch nicht ins Gefängnis müssen. Denn so ist er für Erdoğan dann erstmal uninteressant.“

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