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Geschichte

„Der Hass bringt den Tod“: 30 Jahre nach Solinger Brandanschlag

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Vor 30 Jahren sterben fünf türkische Frauen und Mädchen, als Rechtsradikale in Solingen das Haus der Familie Genç anzünden. Zum Gedenktag am 29. Mai wird Bundespräsident Steinmeier dort erwartet. Es ist der erste Jahrestag nach dem Tod von Versöhnerin Mevlüde Genç.

„Ich habe in der Badewanne Gardinen gewaschen“, berichtet Hatice Genç (55). „Und ich habe geschlafen“, sagt ihr Mann Kamil. Sie habe noch ein Geräusch gehört, erinnert sich Hatice. Das Geräusch dürfte von den Mördern ihrer Töchter verursacht worden sein, die in jener Nacht Benzin ausschütteten und im Hausflur an der Unteren Wernerstraße 81 im nordrhein-westfälischen Solingen ein Flammeninferno entfachten.

Hatice und Kamil sind Überlebende des rassistischen Brandanschlags von Solingen 1993. Sie haben zwei Töchter verloren. Nun treten sie aus dem Schatten ihrer Mutter und Schwiegermutter Mevlüde Genç, die Ende Oktober 2022 gestorben ist. 30 Jahre nach dem verheerenden rassistischen Anschlag stellen sie sich im Rathaus von Solingen den Fragen.

Tränen fließen – auch 30 Jahre danach

„Wir wollen da weitermachen, wo unsere Mutter aufgehört hat. Sie war immer die, die am besten ausgesprochen hat, was wir gefühlt haben. Wir vermissen sie sehr.“ Tränen fließen. Der Brandanschlag von Solingen gilt bis heute als eines der schwersten rassistischen Verbrechen in der Bundesrepublik.

Kurz nach der Tat waren vier junge Solinger im Alter zwischen 16 und 23 Jahren festgenommen worden. Sie waren der rechten Szene zuzuordnen und wurden 1995 wegen Mordes verurteilt. Die Bilder des ausgebrannten Hauses der Familie Genç gingen 1993 um die Welt. Die Brandruine ist längst abgerissen.

„Lasst uns Freunde sein“

Große Kastanien füllen die Baulücke. Am kommenden Montag (29. Mai), dem 30. Jahrestag des Brandanschlags, wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Solingen erwartet, begleitet von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und weiteren Mitgliedern der nordrhein-westfälischen Landesregierung.

Es ist der erste Gedenktag ohne Mevlüde Genç. Sie hatte nach dem Anschlag immer wieder zur Besonnenheit aufgerufen, obwohl sie zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren hatte: Sie waren 4, 9, 12, 18 und 27 Jahre alt. Die Bundesverdienstkreuzträgerin, eine kleine Frau mit Kopftuch, wurde zum Symbol menschlicher Größe: „Dem Hass muss Einhalt geboten werden. Lasst uns Freunde sein“, sagte sie.

„Erinnern ist wichtig“

Was die überlebenden und nachgeborenen Familienmitglieder 30 Jahre später umtreibt, sind nicht nur die Hass-Botschaften auf den Social-Media-Kanälen, sondern auch das Vergessen: „Die Jugendlichen heute wissen nicht mehr, was damals passiert ist. Weder hier noch in der Türkei.“

Die Familie hat einen Vorschlag mitgebracht: Gegen das Vergessen bei der jüngeren Generation könnte eine Schule nach ihrer Mutter benannt werden. „Wir freuen uns, dass der Bundespräsident zugesagt hat. Das Problem Rassismus ist noch lange nicht gelöst, das haben die Morde des NSU gezeigt. Erinnern ist wichtig“, sagen Hatice und Kalil Genç.

„Der Hass bringt den Tod“

„Insofern können wir die Forderung nach einem Schlussstrich nicht nachvollziehen. Gegen den Hass stellen wir unsere Botschaft: Liebe, Frieden, Toleranz. Liebe lässt den Menschen leben, aber der Hass bringt den Tod.“ Keiner der vier Täter habe sich in den vergangenen 30 Jahren bei ihnen gemeldet, geschweige denn entschuldigt.

Symbol der Versöhnung verstorben: Große Trauer um Mevlüde Genç

„Wir hatten keinen Kontakt zu diesen vier Personen und wollen auch keinen. Wir wollen nicht einmal ihre Namen hören.“ Alle vier sind längst wieder auf freiem Fuß. „Als Mutter kann ich nicht damit leben, wenn ich daran denke, dass ich Ihnen begegnen könnte.“ Dennoch hätten sie nicht eine Sekunde überlegt, Solingen zu verlassen: „Nein. Niemals.“

Solingen ist unsere zweite Heimat

Nach dem Tod ihrer Töchter haben Hatice und Kamil, damals waren sie 25 und 28 Jahre alt, zwei Söhne auf die Welt gebracht. „Wir haben hier Kinder, Enkelkinder und uns ein Leben aufgebaut. Wir sind hier glücklich und wollen hier leben. Solingen ist unsere zweite Heimat. ‚Ich lebe hier und werde hier sterben‘, hat unsere Mutter gesagt. So ist es gekommen. Und das gilt auch für uns.“

Von den Überlebenden körperlich am schwersten gezeichnet ist Bekir Genç, der sich in der Folge des Anschlags wegen schwerer Verbrennungen rund 30 Operationen unterziehen musste und inzwischen die Öffentlichkeit meidet. An seiner Stelle sind sein Sohn und seine Frau im Rathaus erschienen: „Bekir geht es nicht gut. Er hat jedes Jahr mehr Probleme mit seinen Verletzungen.“

dpa/dtj

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