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Politik

Hoch gepokert, hoch gewonnen? Erdoğans Spiel mit dem Feuer zahlt sich aus

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12.07.2023, Litauen, Vilnius: Genau so und nicht anders: Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Türkei, spricht auf einer Veranstaltung am Rande des NATO-Gipfels, auf dem er sich als einer der Gewinner fühlen darf. Foto: Pavel Golovkin/AP/dpa
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Dass er ein pragmatischer Machtpolitiker ist, ist bekannt. Neu hingegen ist, dass der türkische Präsident Erdoğan sich dieser Eigenschaft immer mehr bewusst zu sein scheint und gar kein Geheimnis mehr daraus macht. Sein Instinkt für Situationen, in der er sie gewinnbringend einsetzen kann, lässt ihn selten im Stich.

Von Zocken war die Rede in europäischen Medien, von Basar und Feilschen sowieso. „Gib du mir das, was ich will, und ich gebe dir das, was du willst.“ Was genau Recep Tayyip Erdoğan am Ende bekam, ist unklar. Schweden soll unter anderem zugesichert haben, der Türkei wieder vollumfänglich Rüstungsgüter zu liefern und weiter gegen die PKK im eigenen Lande und des Terrorismus beschuldigte Oppositionelle, die je nach Lesart der türkischen Regierung auch schnell zu Staatsfeinden verkommen können, vorzugehen. Doch nicht nur das: US-Präsident Joe Biden soll versprochen haben, sich für die jahrelang brachliegende F16-Kampfjet-Lieferung der USA an die Türkei stark zu machen, wenn der türkische Präsident seine Blockadehaltung gegenüber den schwedischen NATO-Ambitionen aufgibt.

Zugegeben: Es war ein Jahr mit vielen Wasserstandsmeldungen und einem gefühlt ewigen Hin und Her. Mal kamen schwedische Vertreter in die Türkei, mal trafen sich beide Seiten in Brüssel oder anderswo, selten mit Ergebnissen. Dass auch Finnland monatelang kein grünes Licht aus Ankara bekam, ist mittlerweile fast in Vergessenheit geraten. „Spannend“ wurde es ein wenig, als in Stockholm zwei Korane verbrannt wurden und eine dem türkischen Präsidenten ähnelnde Puppe kopfüber aufgehängt wurde. Zweifellos islamfeindliche bzw. unter die Gürtellinie gehende Aktionen, die allerdings ein gefundenes Fressen für den sich im Wahlkampf befindenden Erdoğan waren, den seine Anhänger gerne als „Weltführer“ bezeichnen.

Putins Schwäche das Signal für Erdoğans All-in

Viele hatten damit gerechnet, dass er nach seiner Wiederwahl und vor dem heute zu Ende gegangenen Gipfel in Vilnius sein OK für Schwedens NATO-Beitritt geben würde. Doch Erdoğan wäre nicht Erdoğan, hätte er diese Gunst der Stunde nicht bis zum letzten Moment voll ausgekostet. Seine Forderung nach einer Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche war nicht wirklich zielführend und sicher auch nicht glaubwürdig, selbst für ihn nicht, doch es passte irgendwie zu seinem oft als irrational empfundenen Politikstil. Dreister geht es schließlich immer. Vielleicht ging es ihm darum, nachzukarten gegen die EU, die die Türkei jahrelang hatte vergeblich warten lassen, obwohl sie unter Erdoğan einst auf einem wirklich guten Weg war. Vielleicht aber auch etwas ganz anderes.

Hinter seinem Poker verbirgt sich aber womöglich mehr als nur dreistes Zocken, es wird deutlich, dass er und seine Berater sich in den letzten Wochen viele Gedanken gemacht haben dürften. Seine Vermittler-Rolle im Russland-Ukraine-Konflikt brachte ihn in eine komfortable Situation, die er – vorerst – clever gelöst hat. Den sich hinziehenden Krieg Russlands, die überraschend wehrhafte Ukraine und den Aufstand gegen Putin interpretierte Erdoğan als Schwäche des russischen Machthabers, zu dem er seit Jahren ein ambivalentes Verhältnis pflegt. Das Treffen mit Selenskyj und die Freilassung der ukrainischen Militärs, die eigentlich bis zum Ende des Krieges in der Türkei bleiben sollten, waren so kurz vor dem NATO-Gipfel gut getimt. Die Luft für Putin wird immer dünner, für Erdoğan der perfekte Zeitpunkt, um seinen Beliebtheitswert im Westen wieder etwas zu steigern und den mächtigen Mann in Moskau zu verärgern – für den Moment. Die geografisch-strategische Lage der Türkei ist sowieso ein Faustpfand, das auch vorige Regierungs- und Staatschefs in Ankara immer wieder für sich zu nutzen wussten. Vermutlich aber nie so geschickt wie Erdoğan.

Seine Gegner verabscheuen und/oder fürchten ihn, seine Anhänger huldigen ihm. Der Pragmatiker Erdoğan hat seinem Namen diese Woche wieder alle Ehre gemacht. Und gezeigt, dass hinter seinen Schachzügen manchmal mehr Strategie steckt, als es auf den ersten Blick vermuten lässt.