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Politik

Israel, die Türkei und eine Region am Rande der Katastrophe

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Recep Tayyip Erdoğan spricht zu Teilnehmenden einer Solidaritätskundgebung für Palästina. Foto: Emrah Gurel/AP/dpa
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Vor wenigen Wochen kumpelten Erdoğan und Netanjahu demonstrativ vor Kameras. Nun bricht der türkische Präsident alle Kontakte zum israelischen Ministerpräsidenten ab und droht ihm indirekt mit einer Militärintervention. Was die zerstörte Annäherung für die Türkei und die gesamte Region bedeutet.

Wehende Palästinaflaggen, schwarz-weiße Kufiyas und der türkische Halbmond: Bei einer riesigen Kundgebung auf dem ehemaligen Atatürk-Flughafengelände in Istanbul zeigten Zehntausende ihre Unterstützung für Gaza. Mitten unter ihnen: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dessen Partei die Veranstalung organisiert hatte. Und der Alleinherrscher kam mit einer klaren Botschaft.

Mit der Demo wolle die Türkei „laut und deutlich bekräftigen, dass wir an der Seite des palästinensischen Volkes gegen die Verfolgung durch Israel stehen“. In einer zornigen Rede warf der 69-Jährige dem Westen vor, für das „Massaker“ in Gaza verantwortlich zu sein. Er machte klar: Die Palästinenser hätten das Recht, „mit allen Mitteln“ gegen ihre „Unterdrückung“ aufzubegehren. Israel drohte er indirekt mit einer Militärintervention.

Historie zeigt Verwerfungen

Israel und die Türkei geraten wegen Gaza und der Lage der Palästinenser immer wieder aneinander. Das hat Tradition, wie ein Zwischenfall in der jüngeren Vergangenheit beweist: 2010 war es zwischen den beiden Staaten zuletzt wegen des palästinensischen Küstenstreifens zum Zerwürfnis gekommen – im Rahmen des sogenannten „Ship-to-Gaza-Zwischenfalls“.

Warum Erdoğan zwischen Israel und der Hamas vermittelt

Damals enterte die israelische Marine sechs mit Hilfsgütern beladene Schiffe, die die anhaltende Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollten. Eines der Schiffe, die Mavi Marmara, fuhr unter türkischer Flagge. Auf ihr reisten 581 Aktivisten mit – unter ihnen etwa 400 türkische Staatsbürger, als es zu Auseinandersetzungen mit israelischen Soldaten kam.

Tiefpunkt türkisch-israelischer Beziehungen

Beim Versuch, die Mavi Marmara zu entern, wurden schließlich neun Aktivisten getötet und über vierzig verletzt. Erdoğan schäumte und schwor Rache. Als dann die Gaza-Krise 2018, die mit der Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem befeuert worden war, eskalierte, zogen die beiden Länder ihre Botschafter ab – der Tiefpunkt der türkisch-israelischen Beziehungen. Dass es wenige Jahre später zu einem diplomatischen Neuanfang kommen würde, war damals nicht abzusehen.

Doch 2022 telefonierten Erdoğan und Israels alter und neuer Regierungschef Benjamin Netanjahu erstmals wieder miteinander. Nach Jahren der Funkstille verbesserte sich das Verhältnis schlagartig. Botschafter wurden entsandt, bilaterale Handelsabkommen geschlossen und Energiepartnerschaften, wie eine 1.900 Kilometer lange Gaspipeline, ins Leben gerufen. Die ungleichen Partner schienen sich immer besser zu verstehen. Und auch die Chemie zwischen Erdoğan und Netanjahu stimmte.

Krawalle vor Israel-Botschaft in Istanbul

Erst vor wenigen Wochen trafen sich die beiden in New York bei der UN und witzelten über ähnlich aussehende Krawatten, lächelten in die Kameras und kumpelten in aller Öffentlichkeit. Die Bilder gingen um die Welt – und sind angesichts des neu entflammten Krieges zwischen Israel und der Hamas heute bereits Geschichte.

Netanjahu ruft Erdoğan an: Israel und Türkei starten diplomatischen Neuanfang

In Istanbul müssen gepanzerte Fahrzeuge die Botschaft Israels bewachen, nachdem es wiederholt zu Krawallen gekommen war. Israelis, die nach den Hamas-Angriffen kurzerhand nach Antalya und Istanbul geflüchtet waren, verließen die Türkei kurze Zeit später in Angst. Und Erdoğans AKP organisiert Großveranstaltungen, um Solidarität mit Gaza zu signalisieren. Prompt ließ Netanjahu seine Diplomaten aus der Türkei zurückrufen und warnte vor Reisen ins Land.

Wirtschaftliche Zusammenarbeit bleibt stabil

Wenig später bricht Erdoğan den Kontakt zu Israels Regierungschef ab und ruft seinen Botschafter in Israel zurück. Er ließ sich mit den Worten zitieren: Netanjahu ist für uns keine Art von Gesprächspartner mehr. Wir haben ihn gelöscht, wir haben ihn durchgestrichen.“ Eine Zeitenwende im jüngst verbesserten Verhältnis zwischen Israel und der Türkei.

Doch trotz der vielen Konflikte bleiben die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern unbeschadet. Das Handelsvolumen ist zwischen 2002 und 2022 von 1,41 Milliarden auf 8,91 Milliarden US-Dollar gestiegen. Israel ist der zehntwichtigste Exportpartner der Türkei. 700.000 israelische Touristen besuchten allein 2022 die Türkei.

Die Türkei, immerhin das erste muslimisch geprägte Land, das 1949 den jüdischen Staat anerkannte, ist heute mehr denn je von Israel abhängig. So offen wie zuletzt schimpfte indes noch kein türkischer Staatschef gen Jerusalem. Für die Region verheißt das nichts Gutes. In einem instabilen Umfeld geraten nun auch die vernünftigsten Player mehr und mehr ins Auge des Sturms. Frieden ist aktuell nicht in Sicht.

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