Politik
Korruption und Katastrophe: Wie viel Schuld trägt Erdoğan wirklich?
Zehntausende Tote, zerstörte Städte, Hunger, Wut und Verzweiflung: Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei nimmt Züge einer tiefgreifenden, wenn nicht gar historischen Krise an. Während es zu ersten Tumulten kommt, muss sich die Regierung unangenehme Fragen gefallen lassen. Ein Kommentar.
„Wir haben Straßen, Hochhäuser, Krankenhäuser und Flughäfen gebaut“: Diesen Satz wiederholt Recep Tayyip Erdoğan seit 20 Jahren meist dann, wenn es Richtung Wahl geht. Nun scheint ihm die eigene Propaganda auf die Füße zu fallen. Denn manche dieser Häuser sind eingestürzt, Straßen verschüttet, Krankenhäuser heillos überfüllt.
Schwer wiegt der Vorwurf, dass Ankara in den vergangenen Jahrzehnten viel zu wenig für die Prävention von Erdbeben und anderen Naturkatastrophen unternommen hat. Und das, obwohl die Gefahr bekannt war. Hinzu kommt, dass es vielerorts gängige Praxis war, illegale Bauten zu legalisieren und Bauvorschriften großzügig auszulegen.
Experten warnen seit Monaten vor möglichen Erdbeben
Korruption ist im Bausektor häufig anzutreffen — nicht nur in der Türkei. Nicht selten sei an Stellen gebaut worden, für die in Erdbeben-Gutachten Warnungen ausgegeben wurden. So wurde zum Beispiel der Flughafen der schwer von dem Beben betroffenen Stadt Hatay auf dem ausgetrockneten Amik-See gebaut. Videos zeigen nun einen riesigen Riss, der sich durch die Landebahn des schwer beschädigten Airports zieht.
Und dass im Epizentrum der Katastrophe ausgerechnet die Region Kurdistan liegt, ist kein Zufall. Jahrzehnte der Vernachlässigung rächten sich im Augenblick des Bebens. Das zeigt sich auch darin, wie mit Warnungen von Expert:innen umgegangen wurde. Seit Monaten hatten sie vor einem schweren Erdbeben gewarnt.
Region mit Gefahr alleingelassen?
Ein umfassendes Projekt zum Schutz der Bevölkerung in Bingöl, Elazığ, Malatya, Adıyaman und Kahramanmaraş soll vom Planungsamt des Entwicklungsministeriums (DPT) ebenso ignoriert worden sein wie von der türkischen Anstalt für Wissenschaftliche und Technologische Forschung (Tübitak). Stattdessen sei die Region mit der Gefahr alleingelassen worden, klagt der Geowissenschaftler Prof. Dr. Naci Görür.
Kritik am Krisenmanagement öffentlich zu äußern, ist in der Türkei eigentlich gefährlich. Jahrelang prägte eine Kultur der Ja-Sager:innen das Klima im Präsidentenpalast. Erdbeben-Prävention war angesichts der vielen (teils hausgemachten) außenpolitischen Krisen der Türkei wenn überhaupt ein Thema am Rande.
Erste gewalttätige Tumulte flammen auf
Nun mehren sich die Stimmen, die den Präsidenten für die verheerenden Auswirkungen der Erdbeben verantwortlich machen. Vielerorts flammen erste gewalttätige Tumulte auf. In Hatay setzten internationale Rettungsteams ihre Arbeit aus, weil es auf den Straßen der Stadt zu Auseinandersetzungen gekommen war.
Das Technische Hilfswerk @THWLeitung und @ISAR_GERMANY unterbrechen wegen Sicherheitsbedenken ihre Rettungsarbeiten im #Erdbeben Gebiet #Türkei. @ISAR_GERMANY: „Es ist festzustellen, dass die Trauer langsam der Wut weicht.“
THW-Zentrale sprach von „tumultartigen Szenen“.— Nalan Sipar (@NalanSipar) February 11, 2023
Die Frage, die über allem steht, ist: Wie viel Naturkatastrophe und wie viel staatliches Versagen hat so viele Menschen ihr Leben gekostet? Präsident Erdoğan, der dieser Tage von „Einheit“ und „ehrenlosen Kritikern“ spricht, muss sich vor den anstehenden Wahlen eingestehen: Die fürchterlichen Auswirkungen der Erdbeben sind (auch) seine Schuld.