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Politik

Die CHP vor den Türkei-Wahlen 2023: Gelingt der Überraschungscoup?

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Der CHP-Chef will bei den Wahlen auch die konservative und ländliche Bevölkerung erreichen.
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Die CHP ist die älteste aktive Partei in der Türkei. Sie wurde 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk, der zugleich als Gründer der modernen Türkischen Republik gilt, gegründet. Die aktuell stärkste Oppositionspartei hat Regierungserfahrung, doch das ist lange her und damals gab es zum Teil auch keine anderen Parteien. Nun greift sie wieder nach der Macht – und hat Chancen wie lange nicht mehr.

Seit Montag steht definitiv fest: Der Hauptgegner des amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan bei den türkischen Präsidentschaftswahlen im Mai dieses Jahres wird Kemal Kılıçdaroğlu. Darauf hat sich ein Bündnis aus sechs Parteien, der sogenannte Sechser-Tisch, geeinigt. Kılıçdaroğlu ist Chef der größten türkischen Oppositionspartei CHP. Dank des Bündnisses und der wahrscheinlichen Unterstützung durch die prokurdische Partei HDP ist der CHP-Politiker nun mehr als zuvor ein ernstzunehmender Gegner für die AKP um Recep Tayyip Erdoğan geworden. Doch um was für eine Partei handelt es sich bei der CHP? Wir stellen sie im Rahmen unserer Artikelserie zu den Türkei-Wahlen 2023 vor.

Die CHP ist die älteste aktive türkische Partei

Die „Republikanische Volkspartei“ (türkisch: Cumhuriyet Halk Partisi, kurz: CHP) wurde am 9. September 1923 unter der Führung des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufen. Somit ist sie die älteste aktive Partei im Land. Sie startete vorerst unter dem Namen „Volkspartei“ ins politische Leben. Erst 1935 wurde der Zusatz „Cumhuriyet“ (Republik) ergänzt.

Die sechs Pfeile im Logo der CHP repräsentieren die Grundprinzipien der kemalistischen Ideologie: Republikanismus, Laizismus, Populismus (im Sinne von Volkssouveränität), Revolutionismus, Nationalismus und Etatismus. Kurz nach ihrer Gründung führte die CHP dutzende Reformen durch, die das Land noch bis heute prägen. Dazu gehören unter anderem die Abschaffung des Sultanats und des Kalifats, zwei prägende Säulen des einstigen Osmanischen Reiches. In diesem Zusammenhang wurde auch das lateinische Alphabet eingeführt, es löste das osmanische ab. Damit machte die Partei um den Staatsgründer Atatürk einen riesigen Schritt in Richtung Modernisierung. Justiz, Wirtschaft und Politik sollten nach dem Vorbild europäischer Staaten gestaltet werden. Dennoch: Die ersten demokratischen Wahlen in der Türkei fanden erst 1950 statt. Bis dahin regierte die CHP quasi im Alleingang. Der muslimische Bevölkerungsteil des Landes, der damals wie heute in der Mehrheit ist, wirft der Partei noch heute vor, die Reformen „von oben herab“ vollzogen zu haben und dabei die Religion außen vor gelassen zu haben. Daher gibt es in diesem Milieu nach wie vor starke Vorbehalte gegenüber der CHP, doch dazu später mehr.

Der schwarze Fleck: Das Dersim-Massaker

Ein schwarzer Fleck in der Geschichte der Partei und auch der Türkei ist das Massaker in der ursprünglich historisch halbautonomen Region der Aleviten im Jahre 1937. Dieser gilt als Rachefeldzug der Regierung infolge einer angeblichen Revolte durch Seyyid Rıza, einen Zaza-Stammesführer aus der Region. Die damalige CHP-Regierung reagierte darauf mit militärischen Luftschlägen und gewaltsamen Repressionen, tausende Menschen kamen dabei ums Leben, wurden vertrieben oder assimiliert.

Menderes schickt CHP in die Opposition

Als 1950 die Demokratische Partei um Adnan Menderes die Wahlen für sich entschied, musste sich die CHP mit der Oppositionsrolle zufriedengeben, bis sie ab 1961 wieder die Regierung übernahm – diesmal allerdings als Teil einer Koalitionsregierung. Mit dem im Oktober 1966 zum Generalsekretär gewählten Bülent Ecevit stellte sich die Partei neu auf. Sie entwickelte sich hin zur neuen „Mitte der Linken“. Zwar trug dieser den Kemalismus weiterhin als wichtigen Aspekt der Partei fort, aber die Entwicklung war nun maßgeblich von einem sozialdemokratischen Schwerpunkt geprägt. Diese Neuausrichtung kostete die CHP viele Mitglieder.

Militärputsche werfen Partei zurück

Die Geschichte der osmanischen und noch mehr der türkischen Geschichte nach 1923 ist geprägt von Putschen. Jener von 1971 entfachte erneut Debatten rund um die CHP. Die Partei sollte sich entscheiden, ob man den Putsch gegen die Regierung um Ministerpräsident Süleyman Demirel (Gerechtigkeitspartei AP) unterstützen sollte oder nicht. Diese Frage führte letztlich zum Rücktritt des Reformers Ecevit als Generalsekretär. Ein Jahr später wurde er dann aber zum Parteivorsitzenden gewählt. Ein weiterer Putsch im Jahr 1980 sorgte für einen neuen Wendepunkt. Mit dem erneuten Eingriff ins politische Geschäft verbot das Militär nämlich alle Aktivitäten der bestehenden Parteien. Auch die CHP gab es vorerst also nicht mehr.

1992: Neustart mit Deniz Baykal

Erst 1992 konnte das Parteiverbot wieder aufgehoben werden. Mit der „Neugründung“ übernahm der Jurist Deniz Baykal die Parteiführung, die er mit kleinen Unterbrechungen bis zum Jahr 2010 fortsetzen sollte. Baykal wandte sich als Parteichef immer mehr von den Linken ab. Im Gegensatz zu Ecevit, der mittlerweile in einer anderen Partei aktiv war, stand er für einen anti-westlichen, türkischen Nationalismus. Die seit 2002 regierende AKP kritisierte er insbesondere wegen deren Annäherungspolitik zur EU. Baykal trat 2010 als Vorsitzender seiner Partei zurück und ist mittlerweile verstorben. Seinen Platz übernahm Kemal Kılıçdaroğlu, der bis heute die Position innehat.

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Kritik: Ist die CHP islamfeindlich?

Die größte Kritik muss sich die CHP vom konservativ-religiösen Teil der Bevölkerung gefallen lassen. Insbesondere die Abschaffung des Kalifats und die Einführung der Laizismus-Prinzipien, aber auch weitere Maßnahmen, verärgern diese Schicht. Dazu gehört beispielsweise, dass unter der CHP der Gebetsruf auf Türkisch statt Arabisch ausgerufen wurde. Daneben wurde das islamische Kopftuch in öffentlichen Gebäuden verboten. Erst mit der AKP wurde dieses Verbot wieder aufgehoben. Während die konservativ-religiöse Schicht der Partei bis heute noch „Ungläubigkeit“ vorwirft, lehnt die Partei diesen Vorwurf ab. Man wolle lediglich religiöse Angelegenheiten von staatlichen getrennt halten. Anhänger der CHP hatten lange Zeit wichtige Positionen im Staatsdienst inne. Religiöse Türkinnen und Türken fühlten sich davon benachteiligt. In den letzten Jahren versuchte die CHP allerdings, ihr Image ein wenig aufzupolieren. Speziell das Bündnis mit der ultrakonservativen Partei „Saadet“ ist ein gutes Beispiel hierfür.

Wählerschaft der CHP

Die größte Zustimmung erhält die CHP in den Küstenregionen der Türkei, vor allem Izmir gilt seit jeher als Hochburg. Aber auch in Großstädten sowie in Thrakien erfreut sich die kemalistische Partei einer großen Anhängerschaft. Die folgende Beispielgrafik der Kommunalwahlen von 2019 verdeutlicht das. In den rot markierten Provinzen wurde die CHP stärkste Kraft:

Kommunalwahl 2019 Türkei chp

Städte, in denen die CHP bei den Kommunalwahlen 2019 gewonnen hat. Quelle: https://www.sozcu.com.tr/secim2019/chp_7

Besonnenheit vs. Charisma: Wer triumphiert?

Die Stammwählerschaft besteht überwiegend aus städtischen, säkularen und gebildeten Bürgerinnen und Bürgern. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 will die CHP nun auch vermehrt die konservative und ländliche Bevölkerung ansprechen. Parteichef Kılıçdaroğlu selbst ist alevitisch. Mit Moscheebesuchen und religiösen Statements versucht er alle Schichten der Bevölkerung zu erreichen. Durch das Bündnis mit unter anderem auch konservativen Parteien könnte ihm dieser Versuch diesmal gelingen. Es dürfte sein letzter werden. Mit bald 75 Jahren ist er sogar älter als Amtsinhaber Erdoğan, mit dem er in puncto Charisma nicht mithalten kann. Mit seiner ruhigen, besonnenen und kompromissbereiten Art könnte ihm allerdings ein Überraschungscoup gelingen. Die Chancen dafür standen selten so gut wie jetzt.

Türkei-Wahlen 2023: DTJ-Online nimmt in den kommenden Wochen die türkischen Parteien unter die Lupe. Und klärt die wichtigsten Fragen: Welche Parteien prägen das Land? Wer bestimmt die türkische Politik? Wofür stehen die Parteien und was sind ihre Besonderheiten?

Hier die weiteren, bisher erschienenen Beiträge:

HDP: Kurden, Demokratie – und der allgegenwärtige Terrorverdacht (16. März 2023)

AKP nach 21 Jahren an der Macht auf dem Weg in die „alte Türkei“ (23. März 2023)

Junior-Partner Erdoğans: Die Rolle der MHP bei den Wahlen (30. März 2023)

Türkei-Wahlen 2023: İyi-Parteichefin Akşener weiß sich in Szene zu setzen (8. April 2023)

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