Connect with us

Geschichte

Interview mit Cevheri Güven: „Die Demokratie der Türkei ist völlig zusammengebrochen“

Published

on

Spread the love

Der berühmte Exil-Journalist Cevheri Güven musste aus der Türkei fliehen und führt auch in Deutschland ein eingeschränktes Leben. Denn die Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sowie die Hetzblatt Sabah bedrängen seine Privatsphäre und lauern ihm auf. Doch der unermüdliche Investigativ-Journalist macht mit seinem YouTube-Kanal weiter. Seine Videos erreichen Hunderttausende. Somit ist Cevheri Güven ein effektiver Widersacher der AKP-Regierung. In einem Exklusiv-Interview mit dem Deutsch-Türkischen Journal äußert er sich jetzt über die Woche, die die Türkei für immer verändern sollte.

DTJ: Kann man behaupten, dass die Zeit zwischen dem 17. und 25. Dezember 2013 das Ende der demokratischen Türkei markiert? Können Sie für die jüngere Generation leicht verständlich zusammenfassen, was es mit dieser Woche auf sich hat?

Cevheri Güven: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik Türkei weigerte sich die Polizei, einen Gerichtsbeschluss im Rahmen der Korruptionsermittlungen vom 17./25. Dezember durchzusetzen. Dies war das Datum, an dem die Türkei von einem Rechtsstaat zu einem Polizeistaat überging. Der Ausgangspunkt der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes ist der 17./25. Dezember 2013.“

DTJ: Worum ging es in den Korruptionsakten vom 17. und 25. Dezember?

Cevheri Güven:Die Korruptionsakten vom 17. und 25. Dezember enthielten mehrere Straffälle. Einer betraf die Nutzung der staatlichen Bank Halkbank, um das Finanzembargo gegen den Iran zu umgehen. Der Iraner Reza Zarrab hatte durch Bestechung von drei AKP-Ministern und dem damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan persönlich die Möglichkeit erlangt, die Halkbank zu nutzen und so das internationale Embargo gegen den Iran wegen dessen nuklearer Aktivitäten zu umgehen.“

Es gab schwere Vorwürfe wie Baukorruption, Manipulation öffentlicher Ausschreibungen, Änderungen des Status von historischen und natürlichen Schutzgebieten sowie die Schaffung eines 600 Millionen Dollar schweren Schwarzgeldpools für den Verkauf der zweitgrößten Mediengruppe der Türkei, die Turkuvaz Media Group. Darin enthalten sind Zeitungen wie Sabah und Sender wie ATV und andere.

DTJ: Wie reagierte Erdoğan und seine Regierung auf diese Anschuldigungen?

Cevheri Güven: „Erdoğan und seine Regierung erkannten schnell, dass sie sich diesen gut belegten Anschuldigungen nicht stellen konnten. Daraufhin wurden alle Polizei- und Justizbeamten, die an den Korruptionsakten beteiligt waren, ins Visier genommen. Zuerst wurden sie aus ihren Berufen entlassen und dann verhaftet. Um von diesen Korruptionsfällen abzulenken, beschuldigte Erdoğan die Gülen-Bewegung. So konnte er neue Partner finden und an der Macht bleiben. Als Erdoğan die Gülen-Bewegung beschuldigte, begannen Ultranationalisten in der Türkei, Erdoğan zu unterstützen. Diese neue Koalition wurde zum Unheil der Türkei.“

DTJ: Was denken Sie über die Menschen, die nicht glauben, dass Erdoğan korrupt ist und Geld gestohlen hat?

Cevheri Güven: „Ich glaube nicht, dass es Leute gibt, die denken, Erdoğan habe keine Korruption betrieben. Selbst seine eigene Basis ist sich bewusst, dass Erdoğan in Korruption verwickelt ist. Das Problem ist das Fehlen einer unterstützbaren Opposition gegen Erdoğan. Er hat jeden, der eine Alternative sein könnte, manchmal durch Gerichtsverfahren, manchmal durch schwere Propaganda in den Medien, die er unter seiner Kontrolle hat, politisch ausgeschaltet. Er hat zivile Gruppen, die gesellschaftlichen Widerstand organisieren könnten, als Terroristen gebrandmarkt und ausgelöscht. Die Gesellschaft wurde alternativlos gelassen. Es geht nicht darum, ob die Menschen an Erdoğans Korruption glauben oder nicht, sondern darum, dass es keine starke politische Figur gegen jemanden wie Erdoğan gibt, selbst wenn er in Korruption versunken ist.“

Selbst seine eigene Basis ist sich bewusst, dass Erdoğan in Korruption verwickelt ist.

DTJ: Wie versuchen Sie, diese Menschen zu erreichen? Glauben Sie, dass Ihre YouTube-Videos hilfreich sind?

Cevheri Güven: „Wären meine YouTube-Videos oder Inhalte auf anderen Plattformen nicht effektiv, würde die Erdoğan-Regierung nicht so viel Aufwand betreiben, um sie zu blockieren. Mein Twitter-Account mit 560.000 Followern und 170 Millionen Interaktionen pro Monat wurde drei Tage vor den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 in der Türkei gesperrt. Elon Musk erwähnte offen, dass die Erdoğan-Regierung damit he droht habe, ganz Twitter in der Türkei zu sperren, wenn sie nicht meinen Account und die von drei weiteren Personen blockieren würden. Mein YouTube-Kanal mit 650.000 Abonnenten hatte monatlich 7 Millionen Aufrufe. Eine Woche vor den Wahlen wurde ähnlicher Druck auf YouTube ausgeübt. YouTube gab es nicht offen zu, aber meine Videos wurden einem Shadow-Banning unterzogen. Mein Algorithmus wurde unter Druck gesetzt, sodass die Aufrufe meiner Videos, die normalerweise über 800.000 lagen, sanken. Facebook hat mein Konto mehrfach gesperrt und behauptet, meine Inhalte würden zu Selbstmord anregen. All dies zeigt meiner Meinung nach deutlich, dass die Erdoğan-Regierung Angst vor dem Einfluss auf die Bevölkerung hat.“

DTJ: Glauben Sie, dass Präsident Erdoğan und andere Personen, über die Sie berichten, Ihre Videos angucken?

Cevheri Güven: „Die Analysen der sozialen Medienplattformen zeigen, dass ich von verschiedenen Altersgruppen und aus verschiedenen Regionen verfolgt werde. Trotz meines Daseins im Exil in Deutschland gibt es Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die mich erreichen und mir Informationen zukommen lassen. Diese Vielfalt zeigt, dass Menschen aus allen Gesellschaftsschichten meinen Kanal verfolgen.“

DTJ: Wie geht es den Personen, die als Resultat der Ermittlungen vom 17.-25. Dezember 2013 ins Gefängnis mussten? Polizisten, Staatsanwälte, Richter… Degenerieren ihre Überzeugungen, ihre Lebensansichten und ihre sozialen Fähigkeiten nach so vielen Jahren hinter Gittern?

Cevheri Güven: „Die Polizei- und Justizbeamten, die Ende 2013 die umfangreichen Korruptionsermittlungen durchführten, wurden 2014 verhaftet. Sie sind bis heute im Gefängnis und werden seit fast neun Jahren, im von Erdoğan für politische Gefangene gebauten Silivri-Gefängnis festgehalten und isoliert. 2015 wurde ich als Chefredakteur des Nokta-Magazins wegen eines Artikels verhaftet. Während meiner Zeit im Gefängnis hatte ich die Gelegenheit, mit den inhaftierten Polizisten zu sprechen. Ich fand ihre psychologische Haltung sehr stark, aber ich erinnere mich an einen Moment, den ich nie vergessen werde. Yakup Saygılı, einer der Schlüsselfiguren in den Korruptionsermittlungen und Leiter der Finanzabteilung der Istanbuler Polizei, sagte: „Wir können das Gefängnis und den Freiheitsentzug ertragen. Aber die Kinder. Dafür gibt es keine Worte.“ In den folgenden Jahren verhaftete das Erdoğan-Regime die Ehefrauen vieler dieser Polizisten. Sogar die beiden Töchter von Ali Fuat Yılmazer, dem Leiter der Istanbuler Nachrichtendienste, wurden verhaftet. Unter solchen Umständen ist es meiner Meinung nach sehr schwierig, psychologisch stark zu bleiben.“

DTJ: Welcher dieser Polizisten, die Sie persönlich kennengelernt haben, hat auf Sie den besten Eindruck hinterlassen?

Cevheri Güven: „Der Polizist, der mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, ist Polizeichef Ahmet Öztürk. Als er verhaftet wurde, war seine Frau Ayşegül Öztürk schwanger. Zuerst verlor sie ihr Kind, dann verlor sie ihr eigenes Leben. Das war ein großer Schock für Ahmet Öztürk. Er war inhaftiert, sein damals zehnjähriger Sohn blieb allein zurück. Trotz des politischen Drucks lehnte das Gericht es ab, Öztürk freizulassen. Er ist immer noch inhaftiert. Sein Sohn ist, soweit ich weiß, jetzt in der letzten Klasse der Oberschule. Eine sehr traurige Geschichte. Es ist unglaublich, dass Öztürk für die Ausübung seines Berufs ein solches Leid ertragen muss.“

DTJ: Was muss geschehen, damit diese Menschen ihre Freiheit wiedererlangen?

Cevheri Güven: „Ich weiß nicht, wie in der Türkei die Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt werden kann. Es gab eine enorme Zerstörung. Über Nacht wurden 5.000 Staatsanwälte und Richter aus ihren Berufen entlassen, ebenso 30.000 Polizisten. Ich sehe keinen anderen Weg als den Aufruf einer allgemeinen Amnestie in der Türkei für diese politischen Inhaftierten. Wir sprechen hier nicht mehr von Zehntausenden, sondern von Hunderttausenden politischen Fällen, und ohne eine Amnestie ist dies eine Aufgabendimension, die das Justizsystem nicht bewältigen kann. Erst letzte Woche verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Türkei in einem einzigen Tag in 1.000 Fällen. Sie waren alle politische Fälle, die einander sehr ähnlich waren.“

DTJ: Was hat die Türkei durch die Ereignisse vom 17.-25. Dezember und deren Folgen verloren?

Cevheri Güven: „Die bereits problematische Demokratie der Türkei ist völlig zusammengebrochen, und eine Ära des autoritären Regimes hat begonnen. Das Justizsystem wurde vollständig zerstört. Es wurde üblich, dass die Polizei Gerichtsentscheidungen in politischen Fällen nicht umsetzt, und diese Praxis hat sich sogar auf die Nichtumsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts durch die politische Macht ausgeweitet. Aber meiner Meinung nach ist die eigentliche Zerstörung der gewaltige Braindrain, die massive Abwanderung qualifizierter Menschen aus der Türkei in Folge des Zusammenbruchs von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Tausende von Menschen mit unterschiedlichsten Berufen haben das Land verlassen. Das kann die Türkei nicht mehr reparieren.“

DTJ: Eine türkische Soziologin, die in einem Interview auf der Straße beschrieb, dass die Türkei jetzt südamerikanischen Ländern ähnelt, wurde durch die virale Verbreitung in den sozialen Medien berühmt. Ihre Worte wurden Millionenfach geteilt. Stimmen Sie dem zu, dass die Türkei südamerikansiche Züge angenommen hat?

Cevheri Güven: „Der Vergleich mit Südamerika ist sehr treffend. Die Türkei ist nun ein Land, das von wirtschaftlicher Krise, Korruption, terroristischen Angriffen, die Dutzende von Menschenleben gefordert haben, und mehr als 4 Millionen nicht registrierten Flüchtlingen geprägt ist. Keine negative Situation, wie etwa die Erdbeben und die Lage der Wirtschaft, hat die Regierung zu Fall gebracht, die Wahlergebnisse wurden manipuliert, um den Diktator zu wählen. Wahlen in der Türkei wurden zur Formalität. Diese Bedingungen ähneln denen in südamerikanischen Ländern enorm.“

DTJ: Haben Sie irgendwelche Erwartungen an Länder wie Deutschland, die EU oder die USA bezüglich der betroffenen Polizisten und Staatsanwälte?

Cevheri Güven: „Ich habe keinerlei Erwartungen an diese Länder. Die EU und die USA haben die Menschen, die sich dem Erdoğan-Regime in der Türkei widersetzt haben, längst im Stich gelassen. Sie betrachten die Türkei wie eines der Länder des Nahen Ostens. Dafür kann ich die westlichen Länder ehrlich gesagt nicht beschuldigen. Die Probleme der Türkei müssen vom türkischen Volk gelöst werden. Die Polizisten und Staatsanwälte des 17.-25. Dezembers sind im Gefängnis, weil sie versucht haben, die Plünderung öffentlicher Güter zu verhindern, und diejenigen, die sie wirklich im Stich gelassen haben, ist das türkische Volk selbst.“