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Gesellschaft

„Das Verbot der Grauen Wölfe hat höchste Priorität“

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Geheimdienst-Experte Erich Schmidt-Eenboom im DTJ-Interview
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Die Bundesregierung habe die Geheimdienst-Aktivitäten der Türkei in Deutschland „sträflich vernachlässigt“, sagt Erich Schmidt-Eenboom. Im DTJ-Online-Interview spricht der Geheimdienst-Experte von einem „Schattenreich“ des „türkischen Staatsterrorismus“.

Herr Schmidt-Eenboom, der türkische Präsident geht seit dem gescheiterten Putsch in der Türkei vermehrt gegen politische Gegner:innen vor – auch in Deutschland. Wie sehen Sie die Entwicklung seit 2016?

Traditionell richteten sich die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes MİT gegen vermeintliche oder tatsächliche Anhänger der PKK später auch gegen Unterstützer der Proteste am Gezi-Park in Deutschland. Nach dem von Recep Tayyip Erdoğan selbst inszenierten Pseudoputsch sind die Gülen-Anhänger in der Bundesrepublik, aber auch weltweit die prioritäre Zielgruppe des MİT, der sein Personalplafonds aus eigenen Mitarbeitern und Handlangern entsprechend ausgebaut hat. Hinzu kommen als Quasi-Staatsfeinde in den vergangenen Jahren Journalisten und Politiker, die das System Erdoğan kritisieren. Die drastische Zunahme der Ausspähung und der Einschüchterungsmaßnahmen ist auch der Tatsache geschuldet, dass die deutsche Politik unter Angela Merkel und ihrem Innenminister Horst Seehofer allzu lange weggeschaut hat.

Woran machen Sie das fest?

Das Verbot der kriminellen Rockergruppe Osmanen Germania, die für zahlreiche Gewalttaten verantwortlich war, kam beispielsweise viel zu spät und erst, als diese Frontorganisation des MİT Kriegswaffen aus der Schweiz erhielt. Mit dem Verbot sind die aggressiven jungen Männer jedoch nicht aus der Welt. Meines Erachtens hätten sie, sofern sie nur die türkische Staatsbürgerschaft besitzen, als Gefahr für die innere Sicherheit ausgewiesen werden müssen.

„Schattenreich“ von Agenten und Deutsch-Türken

Die Rede ist von Tausenden Agent:innen und Informant:innen des türkischen Geheimdienstes in der Bundesrepublik. Aktuellste Zahlen legen nahe, dass auf 500 Türkei-stämmige Deutsche ein Agent kommt. Ist das realistisch? 

Diese Faustformel ist mir zu nebulös, weil sie den pyramidenförmigen Aufbau außer Acht lässt: An der Spitze stehen ein Dutzend bei den deutschen Sicherheitsbehörden akkreditierte Residenten. Dann folgen illegale Residenten, die in Tarnfirmen und -vereinen abgedeckt sind. Die führen einige Hundert eingewiesene Agenten, die undercover arbeiten. Am unteren Ende der Skala stehen dann Deutsch-Türken, die entweder von Agenten abgeschöpft werden, oder die aus chauvinistischer Gesinnung Mitbürgerinnen und Mitbürger ausspähen und denunzieren. In der Summe entspricht dieses Schattenreich dann in etwa dem in Ihrer Frage zitierten Wert.

Wie und wo agieren denn diese inoffiziellen Agent:innen?

Die Tarnung der Agentenführer und ihrer eingewiesenen Agenten folgt traditionellen nachrichtendienstlichen Methoden. Wir finden sie in Tarnfirmen wie Reisebüros, Wechselstuben, Luftfahrtlinien oder AKP-nahen Vereinen, aber auch als türkische Besonderheit in religiösen Zusammenhängen wie den DITIB-Moscheen und ihren Moscheevereinen.

„Spiritus rector der Angriffe ist der MİT“

Immer häufiger werden Medienschaffende angegriffen, geflohene Oppositionelle eingeschüchtert: Wer steckt dahinter?

Spiritus rector ist in erster Linie der MİT, den der Bundesnachrichtendienst in einer Analyse zu Recht als Gestapo-ähnlichen Geheimdienst gebrandmarkt hat. Er definiert nicht nur das allgemeine Feindbild, sondern er steckt meistens auch hinter den im Internet und in sozialen Netzwerken gelisteten Namen von Erdoğan-Gegnern. In einer Art Schneeballsystem werden die so an den Pranger gestellten Menschen dann von allen dem türkischen Staatsterrorismus dienlichen Organisationen wie den Grauen Wölfen bis zu fanatisierten Einzeltätern diskriminiert, bedroht oder körperlich misshandelt.

Kommen die konkreten Befehle direkt aus Ankara oder ist es gar ein selbsterfüllendes System? Was denken Sie?

Kein oder: Beides findet statt. Herausragende Zielpersonen aus Medien und Politik nimmt die MİT-Zentrale in Ankara mit ihren etwa 800 auf den deutschsprachigen Raum angesetzten Mitarbeitern selbst ins Visier. Am unteren Ende der Skala sind es einzelne Imame oder auch böswillige Nachbarn, die die vom Münchner Generalkonsulat auf den Weg gebrachte App nutzen, um Erdoğan-Kritiker zu denunzieren und sie damit bei einer Reise in die Türkei der Gefahr von Verhaftung und Verurteilung aussetzen.

„Tatenlose Politiker hofften auf Aussitzen des Problems“

Der Bundesrepublik wird vorgeworfen, wenig gegen die Unterdrückung Türkei-stämmiger Menschen hierzulande zu tun. Die Zahlen sprechen für sich: Gerade einmal acht Verfahren gab es seit 2013 gegen MİT-Agenten in Deutschland. Warum schützt der Rechtsstaat Bürger mit deutschem Pass nicht?

Vorangestellt: Das Bundesverfassungsgericht hat es dem Staat zur Pflicht gemacht, nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern auch hier lebende Ausländer vor nachrichtendienstlichen Nachstellungen zu schützen. Diese Pflicht hat die Regierung Merkel aus Sorge um kaum berechenbare Reaktionen der Türkei wie dem Aussetzen des Flüchtlingsdeals sträflich vernachlässigt. Die tatenlosen deutschen Politiker hofften darauf, dass sich das Problem durch Aussitzen erledigt. Doch ich sehe die Gefahr der Verselbständigung der in Deutschland gewachsenen Strukturen, die ein Überleben dieses Schattenreichs selbst für den Fall begünstigt, dass Erdoğan und die AKP 2023 abgewählt werden.

Welche konkreten Möglichkeiten bieten sich denn den deutschen Sicherheitsbehörden?

Im Prinzip alle Methoden der Spionageabwehr von der Observation erkannter MİT-Angehöriger bis zur Überwachung ihrer Telekommunikation sowie die Analyse der offenen Publikationen und Websites einschlägiger Organisationen und ihrer Nutzer. Die Aufgaben von polizeilichem Staatsschutz und Verfassungsschutz von der Abwehr des internationalen Terrorismus und der grassierenden Wirtschaftsspionage bis hin zur Überwachung rechts- und linksextremer Organisationen sind so vielfältig, dass Human Intelligence schnell an ihre Grenzen gerät.

„Ampelregierung muss MİT-Aktivitäten ein Ende setzen“

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Ich plädiere deshalb für eine intensivere technische Überwachung. Vorzugsweise sollte man dafür jene türkischen Offiziere rekrutieren, die in der Bundesrepublik Asyl gefunden haben, weil sie gegenüber Anwerbeversuchen des MİT weitgehend immun sein dürften. Viel dringlicher als die Exekutivorgane muss jedoch die neue Ampelregierung den bedrohlichen Aktivitäten des MİT und seiner Erfüllungsgehilfen ein Ende bereiten. Die neue Innenministerin hat sich die Bekämpfung des Rechtsextremismus und -terrorismus auf die Fahnen geschrieben. Für mich hat dabei das Verbot der Grauen Wölfe höchste Priorität.

Erich Schmidt-Eenboom, 69, ist Geheimdienstexperte und Direktor des Forschungsinstituts für Friedenspolitik in Weilheim. In den 1990er-Jahren wurde er selbst vom BND überwacht. 

Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wieder. 

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