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Politik

Türkei-Stichwahl: Entscheidung zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu steht an

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Bei der Stichwahl am Sonntag um das Präsidentenamt in der Türkei ist Amtsinhaber Erdoğan der Favorit. Gewinner sind schon jetzt die Nationalisten. Für Manche ist die Wahl existenziell – ihr Ausgang hätte ganz persönliche Folgen.

Die Präsidentenwahl in der Türkei ist für Cansu Yapıcı mehr als eine Abstimmung über Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Sie entscheidet auch darüber, ob sie ihre 71-jährige Mutter noch einmal in Freiheit sehen kann. Cansus Mutter, die Architektin Mücella Yapıcı, war vor zehn Jahren durch ihren Einsatz gegen die Bebauung des zentralen Gezi-Parks in Istanbul bekannt geworden.

Der Protest 2013 im Park weitete sich damals aus zu landesweiten Demonstrationen gegen die immer autoritärere Politik Erdoğans, damals noch Ministerpräsident. Der ließ die weitestgehend friedlichen Proteste brutal niederschlagen. Heute sitzen zahlreiche Akteure von damals im Gefängnis, darunter Mücella Yapıcı.

Gezi-Proteste jähren sich zum zehnten Mal

Sie wurde mit anderen zu 18 Jahren Haft verurteilt. Der Kulturförderer Osman Kavala erhielt lebenslänglich. Der Vorwurf: Anzetteln eines Umsturzversuchs beziehungsweise Beihilfe dazu. Menschenrechtler kritisieren den Prozess als politisch motiviert. Am Sonntag tritt Erdoğan gegen seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu in der Stichwahl an – und die Gezi-Proteste jähren sich zum zehnten Mal.

„Wenn wir in einem Land mit Rechtsstaatlichkeit leben würden, dann müssten wir gar nicht darüber reden, dass die Inhaftierung meiner Mutter etwas mit dem Wahlausgang zu tun hat“, sagt Cansu Yapıcı (35). Sie hoffe, dass bei einem Sieg Kılıçdaroğlus die Türkei wieder zu einem Rechtsstaat werde. „Die Wahl ist für mich existenziell.“

Wahlkampf bleibt unfair

Allzu große Hoffnungen macht sich Yapıcı aber nicht mehr, denn Erdoğan geht als Favorit ins Rennen. In der ersten Runde der Präsidentenwahl vor zwei Wochen verfehlte Erdoğan die absolute Mehrheit nur knapp. Er erhielt rund 2,5 Millionen Stimmen mehr als sein Herausforderer Kılıçdaroğlu, trotz zahlreicher Probleme im Land wie etwa einer Währungskrise.

Internationale Beobachter bewerten die Abstimmung als grundsätzlich frei, bemängelten aber einen unfairen Wahlkampf. Die Opposition will den Unterschied nun aufholen – Beobachtern zufolge ein schwieriges Unterfangen. Der Drittplatzierte Rechtsaußenkandidat Sinan Oğan hat sich inzwischen hinter Erdoğan gestellt.

Nationalismus ist der steigende Trend in der Türkei

Inwieweit seine Wähler der Empfehlung folgen, ist unklar, Oğan hatte vor allem Protestwähler auf sich gezogen. Dass das Verhalten der nationalistischen Wähler den Wahlausgang bestimmt, gilt aber als ausgemacht. „Der Nationalismus ist der steigende Trend in der Türkei“, sagt Hürcan Aslı Aksoy vom Centrum für Türkeistudien CATS.

Ein Phänomen, das auf der ganzen Welt zu beobachten sei. Aber auch das hat Erdoğan einhegen können: Die Wähler verpassten ihm zwar eine Art Dämpfer – Erdoğans islamisch-konservativer AK-Partei fuhr bei der Parlamentswahl mit rund 35 Prozent das schlechteste Ergebnis seit ihrer Gründung 2002 ein.

Kılıçdaroğlus Kehrtwende im Wahlkampf

Die Stimmen wanderten Beobachtern zufolge aber nicht zur Opposition ab, sondern etwa zur ultranationalistischen MHP, mit der die AKP seit 2015 im Bündnis regiert. Aus der Wahl sei das nationalistischste Parlament in der Geschichte der Türkei hervorgegangen, so Aksoy. Nationalisten säßen in allen Lagern.

Kılıçdaroğlu versucht, mit einer Sechser-Allianz aus Parteien unterschiedlicher Lager zu punkten. Er erhält zudem Unterstützung von der prokurdischen HDP. Doch seine Politik der gesellschaftlichen Versöhnung über Identitätsgrenzen hinweg ist vorerst gescheitert. Kılıçdaroğlu reagierte auf diese Erkenntnis mit einer Kehrtwende im Wahlkampf.

Identitätspolitik im Mittelpunkt

Statt versöhnlicher schlägt er nun scharfe Töne an, vor allem gegen Flüchtlinge. Eine kleine rechtsnationale Partei unterstützt ihn nun in der zweiten Runde – das könnte kurdische Wähler frustrieren. Identitätspolitik sei im Endeffekt für beide Seiten – Opposition und Regierung – wichtiger als alles andere, sagt Expertin Aksoy.

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Das Land sei zutiefst polarisiert. Erdoğan wiederum habe es geschafft, eine in sich stimmige islamistisch-nationalistische Allianz zu schmieden. Die Menschen hätten sich in unsicheren Zeiten für einen Anführer entschieden, dem sie zutrauten, politisch etwas auf die Beine zu stellen.

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Erdoğan habe von ihm dominierte Medien zudem dazu genutzt, die Opposition so darzustellen, als unterstützte sie Terroristen. Erdoğan zeigte dafür sogar ein manipuliertes Video. Die Opposition komme kaum in den Medien vor, bemängeln auch internationale Wahlbeobachter, und wenn, dann werde sie negativ dargestellt.

Der regierungsfreundliche Sender A Haber hielt es noch nicht mal für nötig, Kılıçdaroğlus Namen zu nennen, sondern bezeichnete ihn kürzlich in einer Grafik schlicht als „der andere Kandidat“. In einem Versuch, die Medienübermacht Erdoğans zu durchdringen, tritt Kilicdaroglu kurz vor der Wahl in der bei jungen Menschen beliebten Youtube Show Babala TV auf.

Terrorismus-Vorwurf bleibt

Das Konzept ist einfach: Dem Gast dürfen alle möglichen Fragen gestellt werden, aber nur von der gegnerischen Seite. Viele Fragen kommen zum Thema Terrorismus verbunden mit dem Vorwurf, dass die Opposition die PKK unterstützt – die Regierungspropaganda kommt an.

Kılıçdaroğlu erklärt, warum der Kulturförderer Osman Kavala frei kommen muss, auch wenn Erdoğan ihn als Terroristen bezeichnet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe das angeordnet, sagt er. Kılıçdaroğlu benutzt oft das Wort Rechtsstaatlichkeit und hält eine mitgebrachte Ausgabe der Verfassung sechs Mal hoch.

Yapıcı: Freunde bereits im Ausland

Cansu Yapıcı sagt, Kılıçdaroğlus erste Kampagne sei für sie ein wenig so gewesen als hätte der versöhnliche „Geist von Gezi“ seinen Weg in die Politik gefunden – ein Zusammenschluss über Identitätsgrenzen hinweg, wie damals im Gezi-Park. Der Trend zum Nationalismus in der Türkei dagegen mache ihr Angst.

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Viele ihrer Freunde seien bereits ins Ausland gegangen, sagt sie. Aber sie werde den Kampf für ihre Rechte auch bei einem Wahlsieg Erdoğans weiterführen, „wahrscheinlich dann in einem düstereren Umfeld.“

dpa/dtj

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