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Uigurin überlebt Lager – und schreibt ein Buch über ihr Martyrium

Eine Uigurin berichtet vom alltäglichen Horror in den „Umerziehungslagern“ von Xinjiang. Gerade jetzt, wo die Blicke wegen der Olympischen Spiele nach China gerichtet sind, lohnt sich die Lektüre Ihres Buches. Was drinsteht …
Im November 2016 erhielt die im Pariser Exil lebende Uigurin Gulbahar Haitiwaji einen mysteriösen Anruf aus dem fernen Xinjiang. Ein Angestellter ihres früheren Unternehmens bat sie, nach China zu kommen, um einige Dokumente für ihren Vorruhestand zu unterschreiben.
Obwohl ihr Mann sie warnte und sie selbst ein mulmiges Gefühl hatte, setzte sie sich in den Flieger, vielleicht auch weil sie hoffte, auf die Weise ihre Familie wiederzusehen. Doch die Einladung erwies sich als eine Falle. Kaum in Xinjiang angekommen, verschwand Gulbahar hinter den Mauern eines Untersuchungsgefängnisses.
Zweieinhalbjähriges Martyrium
Es war der Beginn eines zweieinhalbjährigen Martyriums durch Gefängnisse und Umerziehungslager, eine Reise durch eine kafkaeske Welt der Unterdrückung und des Horrors. Nur mit viel Glück und weil ihre Tochter und der französische Staat alle Hebel in Bewegung setzten, konnte Gulbahar diesem Alptraum entkommen.
Nach langem Zögern hat sie ihre Erlebnisse mit der Journalistin Rozenn Morgat in dem Buch „Wie ich das chinesische Lager überlebt habe“ festgehalten. Gerade jetzt, wo die Blicke wegen der Olympischen Spiele verstärkt nach China gerichtet sind, lohnt sich die Lektüre.
Einer der wenigen Augenzeugenberichte
In China leben schätzungsweise zehn Millionen Uiguren, die meisten in Xinjiang. Sie sind ethnisch mit den Türken verwandt und fühlen sich von den herrschenden Han-Chinesen wirtschaftlich, politisch und kulturell unterdrückt. Nach ihrer Machtübernahme 1949 in Peking hatten die Kommunisten das frühere Ostturkestan China einverleibt.
Das Buch der Uigurin ist einer der ganz wenigen Augenzeugenberichte aus dem ansonsten streng verschlossenen Inneren von Xinjiang. Nach Schätzungen von Menschenrechtlern sind Hunderttausende bis eine Million in Umerziehungslager gesteckt worden. Es gibt Vorwürfe der Folter, Misshandlungen und Indoktrinierung.
Angekettet in einer Zelle
Peking wirft uigurischen Gruppen Separatismus und Terrorismus vor. Die Gründe, warum Uiguren festgenommen werden, sind dabei absurd. Gulbahar wurde zum Verhängnis, dass ihre Tochter in Paris an einer Demo von Exil-Uiguren teilgenommen hatte. Ein angeblicher Fotobeweis sollte die Mutter zum Geständnis bewegen, dass die Tochter eine Terroristin sei.
Gulbahar beschreibt, wie sie wochenlang an ihre Pritsche angekettet worden sei, wie man sie Tag und Nacht mit grellem Neonlicht traktiert habe und sie zu einer puren Nummer, der Nr. 7 aus Zelle 202, degradierte. Wie die anderen gefangenen Frauen habe sie stundenlange Verhöre über sich ergehen lassen müssen.
Kommunistische Gehirnwäsche
Schließlich erfährt sie, dass sie in eine „Schule“ überstellt wird und atmet auf. Doch dahinter verbirgt sich in Wahrheit ein brutales Umerziehungslager. Die Gefangene schildert den alltäglichen grausamen militärischen Drill, die totalitären Überwachungsmethoden und den theoretischen Unterricht, der eigentlich eine Gehirnwäsche sei.
Die Gefangenen sollen ihr früheres Leben, ihr Ich vergessen, sich „leer“ machen, um angefüllt zu werden mit kommunistischer Ideologie. Sie werden Gulbahars Bericht zufolge obskuren medizinischen Behandlungen unterzogen, vermutlich sterilisiert. Und doch gibt es in all der Düsternis kleine Lichtblicke.
Wahrheit kommt schwer ans Tageslicht
Eines Tages bekommt Gulbahar ihre persönliche Kleidung zurück: „Ich glaube, für einen flüchtigen Moment fühle ich mich schön.“ Dabei ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Als sich die Dinge für sie langsam zum Besseren wenden – die Mühlen der Diplomatie mahlen im Hintergrund –, offenbart sich die ganze Absurdität des Systems.
Die Gefangene wird jetzt aufgepäppelt, darf in einer kleinen Wohnung leben und shoppen gehen, ja sogar Mutter und Schwester empfangen, doch sie darf nichts über sich verraten und wird weiterhin streng überwacht. Je näher der Zeitpunkt ihrer Ausreise kommt, umso mehr taut ihr Bewacher auf, zeigt geradezu menschliche Züge.
Schockierend und erschütternd
Am Ende habe er sich allen Ernstes nach der baldigen Geburt ihres Enkelkindes in Paris erkundigt. Es gab in den letzten Jahren einige sehr kritische journalistische Berichte über die unmenschliche Lage der Uiguren in Xinjiang. Doch ein Augenzeugenbericht wie dieser hat noch einmal eine ganz andere Wucht und Qualität.
Er ist schockierend, erschütternd und eine einzige Anklage gegenüber der menschenverachtenden Politik Pekings und der relativen Gleichgültigkeit der Weltgemeinschaft.
dpa/dtj