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Bildung & Forschung

„Statistisch ist ein Beben in Istanbul überfällig“

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Prof. Dr. Marco Bohnhoff im DTJ-Interview. Foto: GFZ
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In der Türkei bebt immer häufiger die Erde. Besonders die Erdbeben Anfang Februar in der Südosttürkei haben das Land erschüttert. Und auch die Metropole Istanbul liegt in der Hochrisikozone. Im DTJ-Interview spricht der Seismologe Marco Bohnhoff über die Entstehung und mögliche Auswirkungen eines starken Erdbebens in der Megacity.

Herr Bohnhoff, die Erdbeben Anfang Februar in der Südosttürkei haben das Land erschüttert. Jüngst bebte die Erde in der Provinz Malatya wieder. Warum ist die Region so stark von Erdbeben betroffen?

Die Region ist insgesamt stark von Erdbeben betroffen, weil sie direkt an einer tektonischen Erdplattengrenze liegt. Dort bewegt sich die arabische Erdplatte nach Norden und die anatolische Richtung Westen. An dieser Erdplattengrenze findet also eine tektonische Verschiebung statt. Durch diese Energie entsteht Reibung und die führt letztlich zu so starken Erdbeben. Dass in letzter Zeit mehr Erdbeben auftreten, ist kurzfristig korrekt, langfristig aber nicht. Denn es gab in der Region immer wieder – und vor allem auch über lange Zeiträume verteilt – große Erdbeben. Nur jetzt ist es eben viel relevanter, weil dort Ballungszentren entstanden sind.

Durch die Entladung dieser Spannung, die auf den Erdplatten lastet, entstehen Erdbeben. Findet das denn in regelmäßigen Abständen statt?

Leider nicht. Die Abstände sind nicht regelmäßig. Zwar bewegen sich die Erdplatten rund um die Uhr mit ungefähr ein bis zwei Zentimetern pro Jahr. Und dadurch, dass auf dieser Plattengrenze Reibung existiert, verhaken sie sich ineinander. So staut sich die Energie so lange auf dieser gesamten Plattengrenze an, bis an einer Stelle die Festigkeit des Gesteins überschritten wird. Und dann kommt es zu Erdbeben. Danach ist die Gefahr für ein großes Erdbeben an dieser Stelle sehr gering. Die Verschiebung der Erdplatten geht aber weiter. Dieser Prozess dauert Jahrzehnte, Jahrhunderte und irgendwann ist wieder ein großes Erdbeben überfällig.

„In Istanbul wird ein starkes Erdbeben auftreten“

Apropos überfällig: Seit Jahren warnen Expertinnen und Experten vor einem starken Erdbeben in der türkischen Millionen-Metropole Istanbul. Im türkischen Fernsehen werden Horror-Szenarien von Millionen-Toten gezeichnet. Wie schätzen Sie die Gefahr ein?

In der Fachwelt besteht Konsens darüber, dass in der Region um Istanbul früher oder später – und tendenziell eher früher – ein starkes Erdbeben auftreten wird. Das ist belegt durch historische Daten. Weil die Siedlungsgeschichte dort so lang ist und aus geschichtlichen, historischen Aufzeichnungen eben rekonstruiert werden kann, haben wir dort eine gute Datenbasis. Und daraus können wir ableiten, dass dort im Schnitt alle 250 Jahre ein großes Erdbeben auftritt. Das können auch mal 300 Jahre sein und mal 200 Jahre, aber im Schnitt 250. Und das letzte große Erdbeben ereignete sich 1766. Statistisch ist ein Beben überfällig. Ob es morgen auftritt, oder in drei Wochen, oder in fünf oder zehn Jahren, wissen wir nicht. Soweit sind wir in der Forschung heute noch nicht.

Megacity Istanbul droht Erdbeben-Katastrophe mit Millionen Toten

Können Sie abschätzen, wie viele Menschen von einem solchen Beben betroffen sein könnten?

Als Seismologe kann ich keine belastbaren Opferzahlen nennen. Eine UN-Studie geht aber davon aus, dass man mit einer Größenordnung von 50.000 bis 100.000 Opfern rechnen müsste. Aber die Bautätigkeit schreitet voran. Die Bauvorschriften sind zwar verschärft worden, aber letztlich obliegt es der Stadtverwaltung zu beurteilen, welche Gebäude erdbebengefährdet sind. Daraus ließe sich eine genaue Abschätzung generieren.

„Gesamter Bereich vor Istanbul ist gefährdet“

Gemeinsam mit weiteren Seismologinnen und Seismolgen haben Sie den Untergrund vor Istanbul untersucht. Sie leiten das bohrlochgestützte Observatorium GONAF (Geophysical Observatory at the North Anatolian Fault) im Raum Istanbul. Konnten Sie so bereits eingrenzen, von wo genau das nächste Erdbeben ausgehen könnte?

Über das gesamte Marmarameer erstreckt sich eine seismische Lücke. Von İzmit, wo zuletzt 1999 die Erde bebte, über die Prinzeninseln (türkisch: Prens Adaları, Anm. d. Red.) bis nach Tekirdağ. Dort gab es 1912 das letzte Erdbeben. Wir müssen davon ausgehen, dass der gesamte Bereich dazwischen bei einem großen Erdbeben aktiviert werden könnte. Der Bereich unmittelbar vor Istanbul ist komplett verhakt und gefährdet. Und dort würde dann auch im Fall eines großen Erdbebens sehr viel Energie freigesetzt. Das ist zum einen eine schlechte Nachricht, weil die Entfernung zum Stadtgebiet sehr gering ist, nur ungefähr 15 bis 20 Kilometer. Wenn man in dem Szenario noch was Gutes finden will, dann ist es so, dass ein Großteil der Energie aber auch von der Stadt wegläuft, Richtung Westen. Das führt dazu, dass nicht die gesamte Energie auf Istanbul zuläuft. Das sind aber alles nur Szenarien.

In einer Untersuchung zeigen Sie auf, dass ein künftiges Erdbeben in der Region Istanbul eine Stärke von bis zu 7,4 auf der Richterskala erreichen könnte. Wie kommen Sie darauf?

Die Stärke 7,4 ist die größte Erdbeben-Magnitude, die wir in unserem historischen Erdbebenkatalog für die Region bestimmt haben. Aber das stammt aus Beobachtungen. Also von Menschen, die beschrieben, wie Häuser zusammenfielen oder Bäume gespalten wurden. Daraus können wir indirekt eine Magnitude ableiten. Und für die letzten 2.300 Jahre können wir sagen, dass die Magnitude von 7,4 in diesem Zeitraum nicht überschritten wurde. Außerdem können wir durch die letzten Erdbeben abschätzen, wie viel Spannung noch in dem Bereich unter Istanbul vorhanden ist.

„Auswirkungen werden dramatisch sein“

Mit welchen Schäden wäre bei einem Beben derartiger Stärke zu rechnen?

Bei einer Magnitude von 7,4 werden die Auswirkungen dramatisch sein. Die lokale Bewegung des Untergrunds hängt aber immer von seiner Beschaffenheit ab. Fester Untergrund ist immer besser als weicher Untergrund. Ich nenne mal als Beispiel den mittlerweile fast stillgelegten Flughafen Atatürk. Der liegt in einem Bereich einer ausgetrockneten ehemaligen Lagune. Dort haben wir einen sehr weichen Untergrund und das führt zur Verstärkung der Bodenbewegung. Das kann zur Verflüssigung führen, ganze Bereiche könnte weggeschwemmt werden. Es gibt aber eben auch Bereiche in und um Istanbul, die auf relativ festem Untergrund stehen. Dort sind die Erschütterungen auch beim gleichen Erdbeben dann wesentlich geringer. Aber insgesamt ist klar, dass mit sehr großer Bodenbewegung zu rechnen ist. Ob es nun 7,0 oder 7,4 sind, ist dann fast egal.

Den Ort konnten wir bereits eingrenzen. Die Stärke haben Sie soeben eindrücklich beschrieben. Wie steht es um den Zeitpunkt? Wann könnte die Katastrophe in Istanbul auftreten? Gibt es dazu konkrete Berechnungen, die wissenschaftlich belastbar sind?

Leider nicht. Den Zeitpunkt können wir deswegen nicht eingrenzen oder konkret bestimmen, weil so ein Erdbeben bedeutet, dass auf einer Fläche von 200 Kilometern mal 20 Kilometern – also 200 Kilometer Länge und 20 Kilometer Tiefe – irgendwo an irgendeinem Zeitpunkt die Festigkeit des Gesteins überschritten wird. Die gesamte Platte wird aufgeladen und irgendwo an irgendeiner Stelle ist dann die Spannung so kritisch, dass das Gestein bricht. Und um das vorhersagen zu können, müssten wir im Prinzip mehrere Sensoren an jedem Quadratmeter dieser großen Fläche haben. Und das ist aus nachvollziehbaren Gründen nicht der Fall. Wir reden hier von Prozessen, die fünf, zehn oder 20 Kilometer unter unseren Füßen stattfinden. Und da kommen wir nicht dicht genug ran.

Wie könnte die Erdbeben-Forschung denn konkret helfen?

Was wir bestmöglich machen können, ist, und daran forschen wir und auch andere Kollegen bereits, dass wir versuchen, die Frühwarnsysteme zu verbessern. Nämlich dadurch, dass wir gucken: Passiert jetzt im Untergrund gerade etwas, was darauf hindeutet, dass da was Größeres kommt? Knistert es jetzt gerade? Knistert es mit einer bestimmten Systematik? Das erforschen wir aktuell.

„Das Einzige, was man verbessern kann, ist die Bausubstanz“

Nicht selten wird die verpasste bauliche Prävention zum Streitthema in der Politik. Welche kurzfristigen Maßnahmen könnte die Stadtverwaltung denn noch treffen, um Schaden abzuwenden?

Also was möglich ist, ist die lokale Bodenerschütterung abzuschätzen. Dazu laufen Arbeiten. Außerdem kann die Stadtverwaltung den Bestand der Bauten in der Stadt prüfen und die jeweilige Gefährdung einschätzen. Auch daran arbeiten lokale Beamte. Aber das ist natürlich eine logistische Mammutaufgabe für so eine große Stadt. Und das ist ja auch nicht die einzige Stadt, die erdbebengefährdet ist.

Pfusch am Bau nach Erdbeben im Visier: Dutzende Bauherren festgenommen

Langfristig betrachtet: Was müsste städtebaulich passieren, um eine Millionen-Metropole wie Istanbul in einer Hochrisiko-Zone für Erdbeben abzusichern?

Man kann Gebäude, die gefährdet sind, abreißen und neu bauen. Und man kann insbesondere bei Neubauten natürlich die Bauvorschriften einhalten. Die drei Punkte – lokale Gefährdungen abschätzen, Bausubstanz eruieren und dann eventuell Abriss und erdbebensicherer Neubau – helfen zwar. Das Erdbeben verhindern, das werden sie nicht können. Das wird früher oder später auftreten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Marco Bohnhoff leitet die Abteilung „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“ am Deutschen Geo-Forschungszentrum in Potsdam. Er ist Initiator und Leiter des bohrlochgestützten Observatoriums GONAF (Geophysical Observatory at the North Anatolian Fault) im Raum Istanbul.

Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wieder.