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Gesellschaft

Für ein würdiges Cemhaus

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Ein Freund fragte mich kürzlich „Weißt du, warum es unter den Aleviten viele Atheisten gibt?“ Er beantwortete die Frage selbst, indem er seine Lebenserfahrungen wiedergab. (Foto: cihan)

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Für ein würdiges Cemhaus
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„Mein Glaube hat mein Leben immer erschwert. Sehr oft war ich gezwungen, mich zu verstecken, zu verbergen. Bei Kontaktaufnahmen zu anderen hatte ich meinen Glauben immer im Hinterkopf. Die überraschten Reaktionen engster Freunde, nachdem sie erfuhren, dass ich Alevit bin… Meine Mutter schickte mich zum Koranunterricht, nur damit es nicht offenkundig wird, dass wir Aleviten sind.“

Als er fertig war, bemühte ich mich, mich in seine Lage zu versetzen. Sein Glaube beziehungsweise die Zugehörigkeit zu einer Familie alevitischen Glaubens versetzt ihn in eine Minderheitenlage. Ob man nun in einer Gesellschaft Mitglied einer Minderheit oder Mehrheit sind, wirkt sich unweigerlich auf die Lebenserfahrung aus.

Als Mitglied der sunnitischen Mehrheit hat man ganz andere Möglichkeiten, soziale Kontakte aufzubauen. Es ist vollkommen normal, sich in einem breiten Netzwerk gemeinsamer Nenner – angefangen mit dem täglichen Gruß im Namen Gottes – in Sicherheit zu fühlen. Ich spreche nicht davon, den Glauben frei und gleichberechtigt auszuleben; sondern davon, ob ein Glaube von der Mehrheit der Gesellschaft bestätigt, akzeptiert und im Alltag als natürlich angesehen wird.

Macht es nicht einen großen Unterschied, ob Ihr Glaube Ihnen das Leben erleichtert oder erschwert?

Manche übertriebenen Reaktionen von alevitischen Meinungsführern sind als Folge dieses schwierigen Alltags zu verstehen und mit Nachsicht zu betrachten. In Foca ist bei einem Terroranschlag ein Soldat tödlich verunglückt. Sein alevitischer Großvater wollte ihn zuerst in ein Cemhaus und dann in eine Moschee bringen, bevor er schließlich auf dem Friedhof Karacaahmet seine letzte Ruhe findet. Obwohl die Familie des verunglückten Soldaten den Moscheegang ausdrücklich erwünschte, entstand ein „alevitisches“ Problem. Der türkische Premierminister Tayyip Erdoğan sprach von einem „Schreckgespenst“, als die Rede von dem Cemhaus war. Das Cemhaus neben dem historischen Friedhof ist mehr eine Baracke als ein würdevolles Cemhaus. Es ist kaum möglich, an der Kreuzung Richtung Üsküdar entlang zu laufen und nicht diesen unangenehmen Eindruck erlegen zu sein. Da hat der Premierminister Recht. Wir sollten dort Hand in Hand ein schlichtes, aber elegantes Cemhaus errichten, welches der geistigen Gegenwart Karacaahmet Babas würdig ist.

Es ist offensichtlich, dass es auf eine andere Art kompliziert und problematisch ist, Kurde statt Alevit in diesem Land zu sein. Zuerst einmal hat die Türkei ein „Kurdenproblem“, welches alle anderen Probleme des Landes in den Schatten stellt. Die mit der Geburt erworbene ethnische Identität der Menschen stellt das Fundament dar, auf dem dieses Problem konstruiert wurde. Wie sinnstiftend für ein Individuum die Verknüpfung der ethnischen Identität mit riesigen politischen Problemen sein kann, versteht sich von selbst. Niemand kann sich für oder gegen seine durch die Geburt erworbene ethnische Identität entscheiden.

Diese Identität spielt in der internationalen Politik eine Rolle und wir finden einen durcheinander gewürfelten Algorithmus vor. Es wird viel Zeit notwendig sein, um darüber zu reden und das Problem zu lösen.

Als sunnitischer Türke habe ich nicht die Möglichkeit, all meine individuellen Probleme auf meine ethnische Identität oder meinen Glauben zurückzuführen. Der großen persönlichen Welt des Individuums steht eine mit ethnischer und religiöser Identität verstrickte Außenwelt gegenüber; zwischen den beiden Welten kurze Wege zu finden und in schwierigen Zeiten von der einen in die andere Welt zu fliehen, ist sehr einfach.

Das Sprichwort „Eine Nation ist eine sich jeden Tag wiederholende öffentliche Abstimmung“ ist der Schlüssel für ein Miteinander in Frieden und Gerechtigkeit. Was ist das heutige Ergebnis der öffentlichen Abstimmung? Wie stark ist unsere Entschlossenheit für eine gemeinsame Zukunft?

Komplizierte politische Probleme führen zu Sackgassen. Sie schlagen Wurzeln in unseren individuellen Welten. Es ist schwer, ihnen zu entfliehen.

Wenn ich nicht ein Türke sunnitisch-hanefitischer Konfession wäre, wie sähe mein Wunsch nach sozialer Behandlung und Betrachtung aus? Schauen Sie nicht nach rechts oder nach links; die Lösung sowohl des Kurden- als auch Alevitenproblems liegt in der Art und Weise, ob und wie wir uns in die Augen blicken.

Mümtaz‘er Türköne

Mümtaz‘er Türköne, Politikwissenschaftler, ist Autor mehrerer Bücher (u.a. Islamismus als politische Ideologie, Türken- und Kurdentum, Modernisierung und Laizismus). Er gilt als guter Kenner und Kritiker der politischen Rolle des türkischen Militärs. Er ist Kolumnist bei Zaman.