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Kolumnen

Nationen haben das Recht auf Irrtum

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Die Globalisierung schreitet voran und erfasst immer weitere Bereiche. Längst ist die Politik davon betroffen, das handelnde Personal muss fast in Echtzeit auf neu hinzutretende Ereignisse reagieren, die sozialen Medien sorgen auf ihre Weise für zusätzlichen Druck. Kaum ein prominenter Politiker kommt ohne Twittern aus. Bildlich gesprochen, befinden wir uns in Prozessen, in mächtigen Strömen wieder, die uns mitreissen, gegen die sich auch die Politik nicht stemmen kann, weil sie kaum noch Zeit hat, Positionsbestimmungen vorzunehmen. Sie reagiert, das Tempo der Weltgeschichte ist – zumindest momentan – zu hoch.

Die Entwicklungen zu verdammen, hilft nicht weiter, denn sie haben auch ihr Gutes. Denn die Verflechtung der Volkswirtschaften schreitet weiter voran, Güter, Kapital und Menschen bewegen sich in hohem Tempo und lassen sich auch nicht abstoppen – so meine These – wenn es, wie vor ein paar Tagen in Großbritannien geschehen, zu einer großen Richtungsentscheidung kommt. Großbritannien wird – wie auch immer der politische Prozess weiterläuft – Bestandteil Europas bleiben. Zumindest auf unserem Kontinent leben wir nicht mehr im Zeitalter von Krieg und Frieden, nicht in der Farbgebung von Schwarz und Weiß, sondern in einer Grauzone. Anders gesagt, die europäische Politik wird Auswege finden, um Großbritannien weiter an sich zu binden, und am Ende werden auch die Briten dafür sorgen, dass es bei einem vernünftigen Miteinander bleibt. Auf den Brexitbeschluss werden andere Beschlüsse folgen, Menschen haben ein Recht auf Irrtum, auch Nationen. 35 Kilometer Meer zwischen Dover und Calais sind überbrückbar, der waghalsige französische Pilot Blériot hat dies schon im Jahre 1909 beweisen, als er erstmals im Flugzeug den Ärmelkanal überquerte. Blériot‘ sches Denken ist jetzt in der europäischen Politik gefragt.

Die europäische Politik wird Auswege finden, um Großbritannien weiter an sich zu binden, und am Ende werden auch die Briten dafür sorgen, dass es bei einem vernünftigen Miteinander bleibt.

Europa und die deutsche Führungsstärke 

Viele Blicke richten sich auf Deutschland, auf die Kanzlerin, die nach den Fehleinschätzungen in ihrer Flüchtlingspolitik seit dem Votum der britischen Wähler in der Außenpolitik alles richtig gemacht hat. Man darf die Briten jetzt nicht drängen, den Antrag auf Austritt aus der EU zu stellen. Man muss ihnen Zeit geben, die neue Lage zu analysieren wie dies auch für den Rest Europas gilt. Denn wenn die letzten Tage und Wochen eines gezeigt haben, dann das, dass Europa gegenwärtig deutsche Führungsstärke nicht verträgt. Jeder, der in diesen Tagen vorschlägt, die politische Zusammenarbeit in der Gemeinschaft zu vertiefen, liegt falsch. Er beurteilt auch deswegen die Lage unzutreffend, weil die momentane Schwebesituation, in der sich die EU befindet, von den Partnern als Machtzuwachs für Deutschland verstanden wird. Aber die Bundesregierung kann mit diesem „Mehrwert“ kurzfristig nichts anfangen, sie steht einer Phalanx von EU-Staaten gegenüber, die entweder ein Ende der Sparpolitik und mehr Ausgaben wünschen oder mehr Rüstungsanstrengungen, um der russischen verdeckten und offenen Aggressionspolitik in Mittel- und Osteuropa zu begegnen. Die größte Herausforderung für Deutschland ist unter solchen Umständen, die Gemeinschaft in den kommenden ein, zwei Jahren – weiter kann man nicht vorausschauen – einigermaßen zusammenzuhalten und vor allem bei der Herausforderung, die die große Flüchtlingsbewegung darstellt, die Konsensbildung voranzutreiben. Die Quote ist keine Antwort.

Versteckte Hilferufe

Spätestens hier kommt die Türkei ins Blickfeld, ein großes Schiff mit Motorschaden, das zwischen Europa und den autokratischen Regimes dieser Welt, heißen sie Russland, tragen sie arabische Namen, treibt. Nahezu wöchentlich sorgt Präsident Erdoğan für Überraschungen, für unerwartete Kurswechsel, die auch als versteckte Hilferufe gedeutet werden können, die anzeigen, wie stark sich die Türkei nach guten Jahren ihrer Außenpolitik international isoliert hat. Zwar verbietet sich der Vergleich mit Großbritannien, aber in einer Hinsicht trifft er am Ende doch zu: Europa ist mit der Türkei wie die Insel verflochten, wirtschaftlich, bündnispolitisch, vor allem aber durch die Menschen. Das lässt sich nicht trennen. Es müssen daher auch im Falle der Türkei Wege gesucht werden, den Schwebezustand zu überwinden, in dem sich die Beziehung gegenwärtig befindet. Da die europäische Politik die Kraft dazu nicht hat, Deutschland zu viel „Realpolitik“ auf Kosten der türkischen Opposition betreibt, sind die Zivilgesellschaften gefragt. Sie sind stärker, als manche glauben, in London machen sich die Pro-Europäer bei großen Demonstrationen Mut, in Istanbul und in Ankara ist dies gegenwärtig nicht möglich. Aber die Ideen sind in den Köpfen und verbleiben dort. Man muss daher nicht nur Großbritannien, sondern auch der Türkei eine Chance geben.