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Gesellschaft

Den sanftmütigen und barmherzigen Muhammad in den Vordergrund stellen

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Der Lehrer Mustafa Üyrüş kritisiert in seinem Gastbeitrag die fehlende Empathie der Mehrheitsgesellschaft, wenn es um „den“ Islam geht und ruft zugleich muslimische Gelehrte auf, mehr gegen den Islamismus zu tun.

Ein Gastbeitrag von Mustafa Üyrüş

Die Meinungsfreiheit ist eine zentrale Errungenschaft unserer Zivilisation, auf die wir als Europäer nicht ohne Grund stolz sind. Ihre Verankerung im Grundgesetz ist das Resultat tiefgreifender politischer Umwälzungen seit dem 19. Jahrhundert, die Europa unzählige Opfer gekostet haben. Dass die Meinungsfreiheit nicht verhandelbar und somit von allen Menschen hierzulande anzuerkennen ist, stellt heute allerdings noch lange nicht in allen Teilen unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit dar.

Die Vermittlung demokratischer Werte gehört daher nach wie vor zu den übergeordneten Zielen der schulischen Bildung und ist heute sogar wichtiger denn je. Denn im Zeitalter der Digitalisierung, die ein unmittelbares Aufeinandertreffen unterschiedlichster Positionen ermöglicht, bedarf es der Verinnerlichung einer zivilisierten Debattenkultur, die nicht nur auf den Deutsch- oder Politikunterricht zu beschränken ist, sondern eine fächerübergreifende Aufgabe unseres Bildungssystems darstellt.

Rassismus ist keine Meinung

Während die Meinungsfreiheit an sich nicht zur Diskussion steht, sind die Grenzen ihres Geltungsbereichs allerdings nach wie vor ein Streitthema. Und auch dieser öffentliche Diskurs sowie der Streit um die Anpassung verfassungsrechtlicher Grundsätze an soziale Realitäten zählen zu den Grundpfeilern unserer Demokratie. So hat die Sexismus-Debatte der letzten Jahrzehnte maßgeblich dazu beigetragen, dass mittlerweile frauenverachtende Satiren im Fernsehen oder sexistische Werbekampagnen in weiten Teilen der Gesellschaft auf Empörung stoßen.

Ein Blick in die prominenten Satiresendungen der 90er-Jahre auf YouTube erinnert uns heute an das damals von Machokultur und Misogynie geprägte Satireverständnis, das sich noch unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit über Frauen lustig machen durfte. Im Streit um die Grenzen von Satire und Meinungsfreiheit besteht heute in weiten Teilen der Gesellschaft Konsens darüber, dass Angriffe auf die Menschenwürde nicht durch den Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes legitimiert werden dürfen. Antisemitismus ist keine Meinung. Rassismus ist keine Meinung. Sexismus ist keine Meinung.

Muslime spüren Doppelmoral

Mit Blick auf die öffentliche Debatte bezüglich der Charlie Hebdo-Karikaturen muss allerdings festgehalten werden, dass die mediale Empathiebereitschaft wie in den oben aufgeführten Beispielen oftmals an ihre Grenzen stößt, wenn es um die Werte der muslimischen Minderheit geht. Muslime verspüren eine Doppelmoral, wenn die antisemitischen Karikaturen von Dieter Hanitzsch zurecht einen Aufschrei erzeugen, ihnen jedoch pauschal vorgeworfen wird, die Meinungsfreiheit nicht anzuerkennen, wenn sie sich über die Beleidigung des Propheten beklagen. Denn auch der antimuslimische Rassismus ist keine Meinung. Dass hierbei leider mit zweierlei Maß gemessen wird, ist offensichtlich.

Allerdings – und das muss noch einmal in aller Deutlichkeit ausgesprochen werden – ist diese Doppelmoral keine Rechtfertigung für die Ermordung eines unschuldigen Menschen. Nichts, aber auch gar nichts, rechtfertigt eine solche Gräueltat. Wie alle anderen Minderheiten müssen sich daher auch Muslime demokratischer Mechanismen bedienen, um ihren Unmut über die Herabwürdigung ihrer religiösen Werte kundzutun.

So verletzend die Geschmacklosigkeit des antimuslimischen Rassismus auch sein mag – nichts anderes stellen für mich die Karikaturen von Charlie Hebdo dar – gilt es für Muslime, sich von jeglicher Form der Gewalt fernzuhalten und sich bei der Verteidigung des für sie als sakral Empfundenem stets auf dem Boden des Gesetzes zu bewegen. Der Großteil der Muslime in Europa tut dies bereits und distanziert sich ausdrücklich von Terror und Gewalt. Doch die Anschläge von Nizza und Wien zeigen uns aufs Neueste, dass muslimische Bürgerinnen und Bürger noch stärker als Akteure im Kampf gegen den Islamismus auftreten müssen.

Auf Social Media Jugendliche erreichen

Muslime und insbesondere muslimische Theologen dürfen sich nicht mehr damit begnügen, Terroranschläge im Nachhinein zu verurteilen und ihre Unvereinbarkeit mit dem Islam zu verkünden. Stattdessen muss proaktiv gehandelt werden. Heute gilt es beispielsweise, mehr Verantwortung für die Gewaltprävention unter Jugendlichen und eine Auslegung der islamischen Quellen zu übernehmen, die überzeugende Antworten auf ihre Probleme liefert.

Dies betrifft in erster Linie eine kontextuelle und zeitgemäße Interpretation von Koranversen, die Fundamentalisten zur Legitimation ihrer menschenfeindlichen Ziele missbrauchen. Es bedarf ferner einer stärkeren Präsenz auf sozialen Netzwerken, um jungen Musliminnen und Muslimen seriöse Onlinequellen für glaubensbezogene Fragestellungen anzubieten. Denn gerade in der virtuellen Welt, in der Jugendliche mittlerweile den Großteil ihrer Freizeit verbringen, sind sie der Indoktrination durch salafistische Pseudogelehrte am stärksten ausgesetzt.

Predigten überdenken

Die in den Predigten in Moscheen noch immer vorherrschende patriarchalische Rhetorik bedarf ebenfalls einer grundlegenden Veränderung. Der Sanftmut und der Barmherzigkeit des Propheten Muhammad muss eine viel größere Aufmerksamkeit geschenkt werden, als den heroisierenden Anekdoten von muslimischen Heerführern. Dass die Botschaft des Propheten von Frieden und gewaltfreier Konfliktlösung geprägt ist, darf nicht nur in Beileidsbekundungen zum Ausdruck gebracht werden, sondern muss den Kern der islamischen Jugendarbeit ausmachen.

Eine tiefgreifendere Zusammenarbeit zwischen demokratisch gesinnten muslimischen Organisationen und staatlichen Institutionen erscheint in diesem Zusammenhang unerlässlich. Genauso wie in den vergangenen Jahren beim Ausbau der Demokratiebildung in den Lehrplänen der Länder erfreuliche Schritte unternommen wurden, muss auch die Etablierung des Islamischen Religionsunterrichts in die Curricula beschleunigt werden.

Islamlehrer als Vorbild

Wenn wir verhindern wollen, dass der Islamunterricht von ideologisch fragwürdigen Organisationen übernommen wird, die eine klare Grenze zwischen sich und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ziehen, dann müssen wir ihnen den Anspruch als alternativlose „Experten“ zum Thema Islam entziehen. Dafür brauchen wir mehr muslimische Religionslehrer, die den Jugendlichen durch ihre Vorbildfunktion die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam eindrücklicher vermitteln können.

Unabhängig von unserer sozialen Rolle tragen wir alle eine große Verantwortung für das Zustandekommen eines friedlichen Miteinanders in unserem Land. In vielen demokratischen Staaten zeichnet sich heute eine immer stärkere Polarisierung der Gesellschaften und eine Verschärfung der politischen Rhetorik ab. Insofern müssen alle gesellschaftlichen Akteure ihre Sprache nochmals überdenken.

Worte mit Bedacht wählen

Wie der österreichische Kanzler Sebastian Kurz nach dem Terroranschlag in Wien ausdrücklich betonte, darf jetzt kein Kulturkampf herbeigeschworen werden. Stattdessen müssen möglichst alle Kräfte, die sich dem Frieden in unserer Gesellschaft verpflichtet fühlen, für einen Kampf gegen Hass und Gewalt mobilisiert werden. Dabei müssen sich Politiker gleichermaßen an einer Rhetorik des Friedens orientieren wie Geistliche, Journalisten, Lehrkräfte oder Eltern.

Mustafa Üyrüş ist stellvertretender Schulleiter und Lehrer an einem privaten Gymnasium in Bayern. Er unterrichtet die Fächer Deutsch und Sozialkunde.

In diesem Sinne spreche ich mein tiefstes Beileid für meinen ermordeten Kollegen Samuel Paty aus und bete für das Ende dieser schrecklichen Gräueltaten.

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Gastbeiträge sind Beiträge von Personen, die nicht zur DTJ-Redaktion gehören. Manchmal treten wir an Autorinnen und Autoren heran, um sie nach Gastbeiträgen zu fragen, manchmal ist es der umgekehrte Fall. Gastbeiträge geben nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.

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