Wirtschaft
Türkische Lira auf Talfahrt: Die Hintergründe
Noch vor sechs Jahren wuchs die türkische Wirtschaft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, fast zweistellig. Für dieses Jahr hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kürzlich ihre Wachstumsprognose für die Türkei nach unten korrigiert, auf knapp 3%. Gleichzeitig ist die türkische Lira so schwach wie lange nicht, Investoren schrecken vor Kapitalanlagen zurück, weil Unsicherheit im Land herrscht. Eine Analyse.
Von Carolina Drüten
Die Türkische Lira taumelt. Im November fiel sie gegen den US-Dollar auf ein historisches Tief, und auch im Vergleich zum Euro stürzte sie massiv ab. Um die Währung zu stabilisieren, hob die türkische Zentralbank den Leitzins auf 8% an – seit Januar 2014 die erste Erhöhung. Der gewünschte Effekt blieb jedoch aus.
Die Zentralbank stellte sich damit offen gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der im Vorfeld für eine Senkung des Zinssatzes geworben hatte. Damit wollte er Konsumausgaben in der Türkei anzukurbeln. Für Dr. Erdal Yalçın vom Ifo-Wirtschaftsinstitut ist die Entscheidung der Zentralbank nachvollziehbar. „Um sowohl die Binnenwirtschaft als auch die Außenwirtschaftsbeziehungen zu stabilisieren, ist die Zinsanhebung die langfristig nachhaltigere Politik“, erklärt der Münchener Ökonom im Gespräch mit dem DTJ.
Erdoğan macht derweil feindliche Mächte für den wirtschaftlichen Abschwung verantwortlich. „Jemand versucht, dieses Land durch Wirtschaftssabotage in die Knie zu zwingen“, sagte er am Wochenende auf einer Eröffnung eines Einkaufszentrums in Istanbul.
Schon in der Vergangenheit hatte der türkische Präsident in schwierigen wirtschaftlichen oder politischen Zeiten mit Verschwörungstheorien argumentiert. Das Tief der Lira allerdings lässt sich weniger auf feindliche Mächte zurückführen, als vielmehr auf die Summe von geopolitischen Herausforderungen, Sicherheitsrisiken und internen Spannungen im Land.
EU will Beitrittsverhandlungen mit Türkei auf Eis legen
Ende November stimmte das europäische Parlament mit breiter Mehrheit dafür, die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU vorübergehend auszusetzen. Rechtlich ist die Resolution zwar nicht bindend. Nach den Massenverhaftungen in der Türkei als Reaktion auf den gescheiterten Putsch-Versuch ist sie jedoch symbolisch sehr bedeutend. Für die Türkei ist die EU, allen voran Deutschland, der wichtigste Handelspartner. Eine weitere Verschlechterung der Beziehungen könnte fatale wirtschaftliche Auswirkungen haben. Das war auch an den Finanzmärkten deutlich zu spüren: Obwohl sich die türkische Lira nach der Erhöhung des Leitzinses kurzzeitig erholte, setzte sie ihre Talfahrt nach der Entscheidung der EU-Parlamentarier fort.
Auch die Wahl von Donald Trump zum nächsten amerikanischen Präsidenten hat die Lira nachhaltig geschwächt. Unter der Führung Trumps erwarten Anleger einen Wirtschaftsboom in den USA, der steigende Zinsen mit sich bringt. Daher ziehen Investoren ihr Kapital aus vielen Schwellenländern wie der Türkei ab. Der starke Dollar macht es überdies sehr teuer für die Türkei, Waren zu importieren. Darunter haben vor allem Geschäftsleute zu leiden, die Rohstoffe für ihre Produkte aus dem Ausland beziehen.
Das Leistungsbilanzdefizit der Türkei – ein chronisches Problem
Nicht nur geopolitische Entwicklungen setzen die Türkei unter Druck. Auch strukturelle Probleme stellen das Land vor Herausforderung, wie zum Beispiel das chronisch hohe Leistungsbilanzdefizit*. Das allein ist aber nicht zwangsläufig Grund zur Besorgnis. „Bei Schwellenländern wie der Türkei ist es nicht überraschend, wenn sie in der Wachstumsphase mehr importieren als exportieren“, sagt Erdal Yalçın vom Ifo-Institut. Problematisch werde es erst, wenn sich in solch einer strukturellen Phase der Wechselkurs nachteilig entwickelt – dann nämlich steigt die Schuldenlast.
Im Fall der Türkei ist das besonders heikel, denn sie ist in hohem Maße von Energieimporten abhängig und dadurch Währungsschwankungen ausgesetzt. In diesem Jahr konnte die Türkei das Leistungsbilanzdefizit wegen des niedrigen Ölpreises gut bewältigen. Auch plant die Regierung Reformen wie beispielsweise die stärkere Nutzung von erneuerbaren Energien und den Bau zweier Atomkraftwerke, um nicht mehr so stark auf Energieimporte angewiesen zu sein. Premier Binali Yıldırım war deshalb bereits am Dienstag in Moskau. Doch steigen die Ölpreise, gerät das Land in Bedrängnis, Auslandsschulden nicht mehr tilgen zu können.
Erdoğans autoritärer Regierungsstil verschreckt Investoren
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Monaten vor allem durch Unruhen geprägt. Wahlweise islamistische oder kurdische Terroristen verübten Anschläge, die das Land erschütterten. Im Juli versuchte das Militär außerdem, mit einem Putschversuch die Kontrolle an sich zu bringen, und scheiterte. Erdoğan rief den Ausnahmezustand aus, der es ihm erlaubt, per Dekret fast uneingeschränkt zu regieren. Es folgte eine beispiellose Verhaftungswelle von Regierungskritikern und Oppositionellen, die sich nun mit Terrorvorwürfen konfrontiert sehen. Tausende Unternehmen und Institutionen wurden verstaatlicht, Journalisten sitzen im Gefängnis.
Mit anderen Worten: In der Türkei herrscht Unsicherheit – über die wirtschaftliche Entwicklung, über die politische Zukunft und über rechtsstaatliche Prinzipien. Noch ist das Land aufgrund seines großen Binnenmarkts, niedriger Produktionskosten und der günstigen Lage zwischen Europa und Asien attraktiv für Investoren. Doch die vorherrschende Unsicherheit schreckt viele ausländische Anleger davon ab, Kapital in die Türkei zu investieren.
Ungewisse Zukunft
Es ist nun an der politischen Führung der Türkei, den negativen Entwicklungen entgegenzusteuern. Yalçın plädiert dafür, das derzeit angespannte Verhältnis zwischen der Türkei und der EU zu stabilisieren. „Jetzt braucht es Signale, dass die Türkei und Europa konstruktiv nach Lösungen suchen – die Modernisierung der Zollunion im nächsten Jahr ist ein wichtiger Schritt.“
Sollte die Regierung allerdings die Todesstrafe wiedereinführen, wie sie wiederholt gedroht hatte, würde das einen Bruch mit der EU und das sofortige Aus der Beitrittsverhandlungen bedeuten. Es ist fraglich, ob die Türkei angesichts der angeschlagenen Wirtschaft einen solch schweren Schlag verkraften könnte.
Im Vergleich zur Vorwoche gab es diese Woche eine Verschnaufpause: Die Lira stabilisierte sich etwas. Nachhaltig mehr helfen würde allerdings die umgehende Beendigung des Ausnahmezustands, wie auch die TÜSIAD, eine Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute, vor wenigen Tagen betonte.
*Die Leistungsbilanz stellt alle Ausgaben und Einnahmen einer Volkswirtschaft gegenüber. Anhand des Saldos kann man bewerten, wie leistungsfähig eine Volkswirtschaft ist. Es setzt sich zusammen aus Waren- und Dienstleistungshandel, Erwerbs- und Vermögenseinkommen und Übertragungen. Importiert ein Land mehr, als es exportiert, liegt ein Leistungsbilanzdefizit vor, wie momentan bei der Türkei. In diesem Fall baut das betreffende Land Auslandsvermögen ab oder verschuldet sich im Ausland.