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Gesellschaft

Verwaltungsgerichts-Schikane: Die „Bringschuld“ der 61-jährigen E.

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Integrationskurse sind eine gute Sache: Sie helfen Neuzuwanderern, sich in Deutschland zurechtzufinden und ihre Chancen und Perspektiven zu verbessern. Was aber, wenn ein solcher Kurs offenkundig aus reiner Willkür heraus verordnet wird? (Foto: rtr)

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Verwaltungsgerichts-Schikane: Die „Bringschuld“ der 61-jährigen E.
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Es sind diese kleinen, gratismutigen Machtdemonstrationen gegenüber Menschen wie Emine (so nannte das „Migazin“, das zuerst über den Fall berichtet hatte, sie in Abänderung ihres tatsächlichen Namens), die den Eindruck verfestigen, dass die Sarrazin-Debatte auch in der Gerichtsbarkeit des Ländles den Filbinger in manchem Verwaltungsrichter wiedererweckt.

Vor kurzem veröffentlichte das Verwaltungsgericht Karlsruhe ein Urteil, in dem es die Entscheidung der Ausländerbehörde bestätigte, die Emine zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet (Aktenzeichen: Verwaltungsgericht Karlsruhe 4 K 2777/11).

Auf den ersten Blick erscheinen die Voraussetzungen dafür auch nachvollziehbar: Sie besitzt nur einen befristeten Aufenthaltstitel. Deshalb muss sie alle Jahre wieder in die Ausländerbehörde und dort eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis beantragen. So auch im Jahre 2010. Bislang ein Routinevorgang und reine Formsache. Nachdem Emine es jedoch bei einem Test nicht geschafft hatte, sechs von 13 Fragen zu beantworten, wurden der funktionalen Analphabetin ihre mangelnden Sprachkenntnisse zum Vorwurf gemacht. Die Folge: Sie wurde per Bescheid zum Besuch eines Integrationskurses verpflichtet.

Nun dürfte jedermann zustimmen, dass es Sinn macht, funktionalen Analphabeten – von denen es Untersuchungen zufolge in Deutschland nicht weniger als 7,5 Mio. geben soll – Hilfen an die Hand zu geben, damit diese im täglichen Leben lernen, zurecht zu kommen und auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen vorzufinden. Selbstverständlich ist es auch legitim, von Zuwanderern die Bereitschaft zum Erwerb von Sprachkenntnissen zu erwarten.

Niemals dem Staat auf der Tasche gelegen

Aber in diesem Fall ist die Rede von einer 61-jährigen Frau, die seit 30 Jahren in Deutschland lebt, niemals Sozialhilfe in Anspruch genommen hat, die sechs Kinder großgezogen hat – alle davon sind mittlerweile deutsche Staatsangehörige mit Universitätsabschlüssen und guten Einkommen – und in während ihrer Berufstätigkeit als Reinigungskraft und Haushaltshilfe schlicht und einfach keine erweiterten Kenntnisse der deutschen Sprache benötigt hatte. Heute betreut Emine ihre Enkelkinder, um beiden Elternteilen die Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Diese selbst gewählte Verpflichtung im Interesse ihrer Familie und ihr angeschlagener Gesundheitszustand würden auch den Besuch des Integrationskurs – zu dem üblicherweise nur Neuzuwanderer verpflichtet werden – zu einer Belastung machen, die sie vermeiden möchte.

Trotzdem ist Emine nach Auffassung der Ausländerbehörde und des Verwaltungsgerichtes „in besonderer Weise integrationsbedürftig“. Das „hohe staatliche und gesellschaftliche Interesse daran, dass sich alle auf Dauer in Deutschland lebenden Ausländer zumindest auf einfache Art sprachlich verständigen können“, solle nach Auffassung des Gerichts offenbar das Interesse der Antragstellerin, weiter ihre Aufenthaltserlaubnis ohne weiteren Hürden verlängert zu bekommen, überwiegen. Und das, obwohl Emine nie Probleme damit hatte, den Alltag zu meistern, Tätigkeiten des täglichen Lebens wie Einkaufen meistern und dabei noch etwas Small Talk zu üben und selbst während ihres Krankenhausaufenthaltes aufgrund einer größeren Operation in der Lage war, sich mit den Ärzten und dem Krankenhauspersonal zu verständigen.

Die Ausländerbehörde und das Verwaltungsgericht verstecken sich hingegen hinter dem Wortlaut des Aufenthaltsgesetzes, wonach zur Integration auch die „Eingliederung in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in Deutschland“ gehöre. So habe es der Gesetzgeber geregelt. Und bei Emine gäbe es keinerlei Anhaltspunkte, dass sie „außerhalb ihrer Familie gesellschaftlich und kulturell integriert“ sei.

Bestrafung für „archaisches Gebärverhalten“?

Das Urteil hat nicht nur bei den Betroffenen selbst und bei Migrantenverbänden Kopfschütteln ausgelöst. Befremden lösten nicht nur der völlig lebensfremde Bürokratismus und die paternalistische Staatsauffassung aus, die aus der Entscheidung sprechen – man könnte fast vermuten, die Frau und ihre Familie sollten für ihr „archaisches Gebärverhalten“ bestraft werden und es wäre besser, die Enkelkinder würden frühestmöglich in eine Kindertagesstätte gesteckt, statt von der Großmutter betreut zu werden. Jedenfalls denkt offenbar niemand weit genug, um zu begreifen, dass die intakte Familie jedoch nicht nur in der Lage war, sechs fleißige und gut verdienende Steuerzahler hervorzubringen, sondern gerade die Tatsache, dass diese problemlos in der Lage wären, jederzeit den Unterhalt ihrer Mutter zu sichern, erwarten lässt, dass Emine wohl auch für den Rest ihres Lebens keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen müsste.

Was noch schwerer wiegt, ist aber, dass sich hier ein ganz offenkundiger Wille zur Schikane offenbart und die Betroffenen vor dem Hintergrund der Umstände des Falles nichts anderes als eine Botschaft aus den Entscheidungen herauslesen können, es solle im Interesse einer „Volksgemeinschaft“ an einer einfachen, gesundheitlich angeschlagenen älteren Frau mit Migrationshintergrund – und damit einem vermeintlich leichten Opfer – ein Exempel statuiert werden.

Wen aber soll es da noch wundern, wenn das Vertrauen von Menschen mit Migrationshintergrund in den Staat und dessen selbst gesetzte Verpflichtung, die Menschenwürde unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder religiöser Zugehörigkeit zu wahren und das Willkürverbot des Art. 3 GG zu beachten, immer mehr leidet?