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DTJ-Blog

Conclusio Culturalis – die Entscheidung, die jeder treffen muss

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Die Entscheidung, Elitarismus, Kultur
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Ich möchte gar nicht wissen, wie schwer es wirklich sein muss, Deutsch zu lernen. Vokabeln und Grammatik sind ja auch für Profitexter wie mich eine echte Herausforderung. Richtig tricky wird es aber dann, wenn man versucht, die ganzen Wortspiele zu verstehen. Denn die lieben Redakteure nun mal. Und eigentlich – ist das auch gut so.

Nehmen wir mal ein paar vollkommen willkürlich gewählte Headlines aus SPIEGEL und STERN Online:

„Grünen-Chef Özdemir: Assad und Putin bomben Syrien zurück in die Steinzeit“

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wer „Zurückbomben in die Steinzeit“ erfunden hat. Dennoch benötigt es gerade für Kulturfremde wohl etwas intellektuelle Anstrengung, den Sinn dieses Satzes zu verstehen.

„Geständnisse des französischen Präsidenten: Hollande redet sich um Kopf und Kragen“

„Um Kopf und Kragen reden“ stammt wohl noch aus der Zeit, in der Menschen unter die Guillotine gelegt wurden. Delinquenten, die auf diese Art zum Tode verurteilt wurden, bekamen zunächst den Kragen und dann den Kopf abgeschnitten. Eigentlich müsste es dann konsequenterweise „Um Kragen und Kopf“ heißen.

„Möglicher SPD-Kanzlerkandidat in Berlin: About Schulz“

About was? Warum About? Was bedeutet das? In diesem Fall ist es nur ein Filmzitat: Einer der letzten Filme mit „Easy Rider“ Jack Nicholson in der Hauptrolle hieß „About Schmidt“. Schon fast zehn Jahre alt und quasi vergessen, trotzdem hier nochmal als Zitat angetriggert.

Hinter der reinen Information versteckt sich also eine zweite Welt, welche den Leser immer wieder an sein Weltwissen erinnert. Dies ist die Welt der Kultur. Je nachdem, auf welches Zitat oder Element man trifft, lässt sich eine mehr oder weniger große Kaskade an kulturellen Querverbindungen entdecken. Diese kulturelle Kaskade hat etwas Verbindendes für die, die sich darin auskennen. Doch jedes unverstandene Zitat wirkt wie eine Tür, die dem Leser vor der Nase zugeschlagen wird. Nachfragen lohnt sich also. Denn mit steigender Kenntnis des kulturellen Labyrinths lässt sich vieles mit immer weniger vermitteln. Doch der Einstieg in diese geheime Welt des Wissens hinter dem Wissen ist eine Entscheidung, die jeder alleine treffen muss.

Nicht oben anfangen

Man muss nicht die schwersten Wälzer hervorkramen, die bedeutsamsten Bilder studieren oder sich in die Tiefen orchestraler Musikinterpretation stürzen, um an der kulturellen Welt teilnehmen zu können. Die Kultur ist allgegenwärtig und begegnet uns auch im kleinstem, profansten und banalsten aller Elemente immer wieder.

Ein Mann steht auf einer Staumauer und stürzt sich an einem Bungee-Seil in die Tiefe. Was blitzt da sofort auf? Richtig: Die Anfangssequenz von „James Bond – Golden Eye“. Primär werden hier schon eine ganze Reihe kultureller Kaskaden ausgelöst: Der erste James Bond nach einer langen Pause. Der Auftritt von Pierce Brosnan – bekannt aus der Krimiserie „Remington Steele“ und dem Mehrteiler „Noble House“ – hat hier sein Debüt in der Rolle des bekannten britischen Geheimagent. Sein Partner und Konterpart wird von Sean Bean gespielt, der später als „Boromir“ (Herr der Ringe) und viel später als „Ned Stark“ (Game of Thrones) noch große Rollen bekommen sollte. Dann: Tina Turner, seit den 1960er Jahren eine Gigantin des Popbusiness singt den Titelsong – und läutet damit gleichzeitig das allmähliche Ende ihrer Karriere ein. Doch man kann hier noch tiefer graben.

Einer der Kameramänner von „Golden Eye“ hieß Jasper Fforde. Neben seinem Beruf als Kameramann ist dieser Kulturschaffende ein fantastischer Autor. Sein Werk fügt sich hervorragend in das Genre der verrückten SF/Fantasy ein, wie sie von Douglas Adams (Per Anhalter durch die Galaxis) und Terry Pratchett (Scheibenwelt-Zyklus) als satirische Variation der etwas bierernst gehaltenen Werke von Tolkien (Herr der Ringe) bis Dick (Blade Runner ) etabliert wurden.

Fforde erschafft in seiner „Thursday Next“-Reihe eine Welt, die gut und gerne als Feuerwerk der Zitate, Anspielungen und Verweise auf die Kultur gelten kann. So fährt die gleichnamige Hauptdarstellerin und Detektivin beispielsweise als Dienstfahrzeug einen „kunterbunten Porsche Cabrio“.

Bleiben wir einmal kurz beim kunterbunten Porsche Cabrio stehen. Wofür steht Porsche? Porsche fahren Menschen, die es sich leisten können. „Ich baue Autos, die jeder will, aber niemand braucht“, soll Ferdinand Porsche einmal gesagt haben. Zielstrebigkeit, Dominanz, Progression, Geschwindigkeit und Technik werden mit Porsche verbunden – aber gewiss nicht kunterbunte Verspieltheit. Und trotzdem:

Das kunterbunte Porsche Cabrio ist fest mit seiner berühmten Fahrerin verbunden, die ihm sogar indirekt ein Lied gewidmet hat: „Oh Lord, won’t you buy me…“ Janis Joplin, eine der ersten aus dem traurigen „Club 27“, Ikone der Hippie-Bewegung, hatte ihn, den psychodelisch lackierten Porsche 356 Cabriolet, bemalt vom Künstler Dave Richards, der auch ihr Roadie war, zum Fahrzeug erwählt.

Die Entscheidung, die jeder zu treffen hat

Die kulturelle Kaskade lässt sich nun immer weiter spinnen: Das berühmteste Lied von Janis Joplin war „Me and Bobby McGee“, welches aber nicht von ihr, sondern von Kris Kristofferson gespielt wurde. Das war der gleiche Kris Kristofferson, der in der „Blade“ Reihe an der Seite von Wesley Snipes als Halbvampir gekämpft hat.

Aber bleiben wir noch beim Porsche 356 Cabriolet von Janis Joplin. Die Lackierung bekam den Namen „History of the Universe“ und war seinerseits eine Kaskade kultureller Motive in psychodelischen Farben, ganz so wie es in den verrückten späten 1960ern in der Hippiekultur üblich war.

Doch eine Nebengeschichte zum „History of the Universe“-Porsche von Janis Joplin soll nun zeigen, was das alles mit einer Entscheidung zu tun hat, die jeder früher oder später treffen muss:

Der kleine Porsche mit der auffälligen Lackierung wurde gestohlen. Da er in dieser auffälligen Lackierung nicht weiter verkauft werden konnte, ließ der Dieb das Fahrzeug kurzerhand von einem weiteren Schurken im üblichen Silber überlackieren. Dass dabei das Kunstwerk, zudem er dadurch geworden ist, zerstört wurde, war nicht zu vermeiden. In dieser Aktion gerinnt die Frage nach Sinn und Zweck von Kultur zu einem digitalen Zustand:

Den Wert von Kultur erkennen oder ignorieren?

Was muss man sein, um der berühmtesten Künstlerin der Gegenwart das Auto zu stehlen, die Kunst seiner Lackierung zu zerstören, nur um einem mickrigen Profit zu machen? Es ist nicht der Bildersturm, wie er beim Sprengen der afghanischen Buddha-Statuen oder der kunsthistorischen Schätze im Herrschaftsgebiet des IS durchgeführt wurde. So schlimm diese Taten der Terroristen auch waren – sie haben sich wenigstens damit auseinander gesetzt. Das Ignorieren der kulturellen Werte als Solches ist jedoch eine andere Dimension der Kulturvernichtung. Was sagt der unfreiwillige Helfer aus „Ziemlich beste Freunde“, als er Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ vorgespielt bekommt? „Das kenne ich. Das ist die Wartemelodie vom Arbeitsamt“. Kulturlosigkeit und Ignoranz gehen Hand in Hand. Die Kaskade der kulturellen Anspielungen zu entdecken und nachzuvollziehen mag schwer sein. Jedoch ist es ein lohnenswerter Weg, weil er einfach den eigenen Horizont immer weiter zu öffnen vermag.

Wo stehst du also? Mit Tränen in den Augen vor der Bühne, der dargebotenen Kunst des Konzert, des Theaterstücks oder der Performance folgend? Staunend vor dem nächsten Bild, neugierig auf den nächsten Film, interessiert am Wortspiel der nächsten Headline? Oder stumpf alles unverstandene ignorierend weiter dem kurzfristigem Profit folgend, auch wenn dafür echte Werte dauerhaft vernichtet werden müssen?

Nicht Elitarismus sondern geistige Offenheit

Zugegeben: Ein Deutscher, der von kultureller Vielfalt schwärmt, darf durchaus als Alarmsignal empfunden werden. Es war die „kulturelle Überlegenheit“ der Deutschen, die ihnen die Rechtfertigung für den Einmarsch in die Sowjetunion gegeben hat – einschließlich der in aller Grausamkeit verübten Verbrechen. Das Gedenken an das Massaker von Babi Jar ist erst drei Wochen her. Schlomo Perel, der Autor von „Hitlerjunge Salomon“, sagte einst:

„Wir konnten nicht verstehen, was damals geschah. Es waren keine Barbaren, die Europa verwüstet haben. Es waren die Deutschen, die Menschen, die uns Bach und Beethoven geschenkt haben.“

Hieran wird deutlich, dass bei aller kulturellen Schwärmerei der Schritt in die intellektuelle Abgehobenheit schneller geht, als man glaubt. Denn was die Rechtfertigung der Deutschen war, war nicht die Wirkung von der Kultur, sondern ihr Gegenteil. Kultur verbindet. Sie grenzt nicht ab, sondern sie lädt ein. Sie erhebt nicht, sondern sie erweitert. Wer sich im kulturellen Umfeld etabliert wähnt, tut deshalb immer gut daran, seinen Kontakt zur Außenwelt auch selbst immer wieder kritisch zu hinterfragen. Wie für alles, gilt auch für die Kultur die immerwährende Weisheit: Allein die Dosis macht das Gift. Und wer das gesagt hat, mag der werte Leser nun selbst herausfinden. (Foto: Pixabay)