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Kolumnen

Merkules und die ewige Debatte um „die Ausländer“

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Deutschland, Flüchtlinge, Europa. Vernunft und Unvernunft liefern sich eine öffentliche Schlacht nach der anderen. Politische Schmarotzer und Hetzer wie die AfD oder zuletzt die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach (CDU) wühlen die Gewässer auf und wollen im Trüben dicke Fische fangen. Politischer Populismus hat Hochkonjunktur. Bierzeltrhetoriker verbreiten Angst und Panik in der deutschen Gesellschaft.

Das vom vergangenen dem 21. Jahrhundert anvertraute Projekt Europäische Union auf der Basis universeller menschlicher Werte taumelt von einem Schockzustand in den nächsten. Mehrere EU-Mitglieder haben schon wieder die Drahtzäune und Mauern hochgezogen, deren Verschwinden sie ihre Rückkehr zur modernen Zivilisation zu verdanken haben.

Mitten im europäischen politischen Jahrmarktstrubel von Gauklern, Zauberern und Schießständen hält Angela Merkel den Kopf hoch. Unterstützt von nicht immer hörbaren Mehrheiten der Vernünftigen steht Merkules wie ein Fels in der Brandung und sagt immer wieder: „Wir schaffen das!“ Zuletzt im Gespräch mit Anne Will in der ARD. Einen „Plan B“ habe sie nicht. Braucht sie auch nicht. Ihr „Plan A“ erfasst alle Buchstaben des Alphabets.

Wehrhaft gegen die Geschichtsverdrängung

Umkippen und aufgeben wird die erste Frau im höchsten deutschen Regierungsamt nicht. Sie kämpft schließlich nicht nur für Deutschland, sondern für die europäischen Ideale auf der Basis von Menschlichkeit. Sie weiß wie Bundespräsident Joachim Gauck zu gut, was Unrecht ist, das in der einstigen DDR vier Jahrzehnte geherrscht hatte. Genau das aber kann von einigen Ländern wie Tschechien, Slowakei, Polen oder Ungarn nicht mehr gesagt werden, deren Staats- und Regierungsführungen Jahreszahlen wie 1953, 1956, 1968 oder 1981 offenkundig entweder vergessen haben oder verdrängen wollen.

Ströme, Wellen, Fluten von Menschen würden uns Europäer zu einer Minderheit werden lassen, heißt es. Frau Steinbach twitterte ein Foto, auf dem ein kleines Kind mit strohblonden Haaren umringt von vielen anderen Kindern und Jugendlichen mit anderen Hautfarben und anderer Bekleidung begafft wird. So, will Frau Steinbach suggerieren, werde es 2030 in Deutschland aussehen.

Neu ist das Bangemachen vor Einwanderung in Deutschland nicht. Hier ein Ausschnitt aus den Debatten in der ersten Hälfte der 80er Jahre: Der damalige Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes, Jürgen Schilling, meinte öffentlich: „An finanziellen Mitteln braucht die Rückwanderung von Ausländern nicht zu scheitern“, und brachte die Idee einer Sondermarke „Notopfer Anatolien“ ins Spiel.

„Bunt kosmopolitisch zersiedelt“

Damit war es ihm aber nicht genug. Schilling sah in der „multikulturellen Gesellschaft eine Gefahr für die Wiedervereinigung Deutschlands“: „…was aber, wenn in 20 Jahren Mecklenburger noch Mecklenburger und Thüringer noch Thüringer sind, während wir uns als Bürger eines bunt kosmopolitisch zersiedelten freiheitlich verfassten Rheingrabens wiederfinden, der sich mit stetig schwindender Präzision Bundesrepublik Deutschland nennt.“

Heiner Geißler, damals CDU-Generalsekretär und Bundesfamilienminister, warnte vor Trugschlüssen angesichts von 1,8 Millionen Arbeitslosen und 1,9 Millionen ausländischen Beschäftigten, weil viele Industriezweige nach wie vor auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen seien. Andere namhafte Experten wandten sich gegen die Furcht vor den „Grenzen der Integration“. Der Schaden für die Gesellschaft und Konflikte entstünden nicht aus der Integration, sondern aus dauerhafter Isolation, Ungleichbehandlung und „Unkenntnis sowie Unredlichkeit“, hieß es.

Kein geringerer als der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt warnte 1982 nach der Regierungsübernahme der ersten schwarz-gelben Koalition unter Helmut Kohl davor, „Kompromisse mit der Türkei weiter hinauszuzögern“ und wandte sich strikt dagegen, die Einreise vor allem von Türken „dem Wildwuchs zu überlassen“.

Willy Brandt: „Ausländerfeindlichkeit ist unserer nicht würdig“

Aus meinem damaligen Gespräch mit ihm als Politik-Redakteur des Bonner General-Anzeigers stammt auch das von Brandt bekräftigte Gedankengut, an dem sich die Bundeskanzlerin orientiert: „Sie werden mich an der Seite derer finden, die das unterstützen, wozu auch die Vertreter der Kirchen auffordern, nämlich uns mit welchen Äußerungen von Ausländerfeindlichkeit auch immer nicht abzufinden. Dies ist unserer nicht würdig, nicht nur aufgrund unserer Geschichte, sondern auch aufgrund unserer Verantwortung für Europa.“ Für „nicht statthaft“ hielt Brandt den von türkischen Zeitungen gezogenen Vergleich der damals vorherrschenden Atmosphäre in Deutschland mit der in den 30er-Jahren, als „aufgestauter Rassenhass von den Nationalsozialisten ausgenutzt und kultiviert worden war“.

Angela Merkel schafft das, was sie angefangen hat: Die europäische Idee vor der Zerstümmelung durch diejenigen zu retten, die nicht wahrhaben wollen, dass die Zeit der Großmachtträume von Nationalstaaten schon längst vorbei ist. Die Bundeskanzlerin weiß, dass Deutschland und Europa nur dann nachhaltig ein Mitspracherecht in der Weltpolitik haben werden, wenn sie auch als vertrauenswürdige „global player“ überzeugen. Das werden auch die AfD, Pegida, Erika Steinbach oder Thilo Sarrazin begreifen, aber nicht wahrhaben wollen.

Ach ja… Auch in Sachen Wandschmierereien wiederholt sich die Geschichte: In den 70ern und 80ern war an vielen Hauswänden zu lesen: „Türken raus.“ Der Düsseldorfer Künstler Manfred Spies drehte den Spieß um und gestaltete ein Wandplakat: „Mein Freund ist Türke – Benim arkadaşım Türktür.“ Ähnliche öffentliche Aktionen wären sicherlich auch heute angebracht: „Mein Freund ist Flüchtling.“


Die journalistische Laufbahn von Baha Güngör, der 1950 in Istanbul geboren wurde und 1961 nach Deutschland kam, begann 1976. Nach Stationen bei Reuters und dem Bonner General-Anzeiger wurde er 1984 Pool-Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in Ankara und Athen. Als freier Journalist bediente er auch über viele Jahre mehrere deutsche Rundfunksender. In den 90er Jahren war er sechs Jahre dpa-Korrespondent in der Türkei, bevor er 1999 die Leitung der türkischen Redaktion der Deutschen Welle übernahm. Im Juli vergangenen Jahres ging Güngör altersbedingt in den Ruhestand, arbeitet jedoch weiter als freier Journalist und Türkei-Experte für deutschsprachige Medien sowie Stiftungen. Ab sofort wird er auch regelmäßig für DTJ-Online schreiben.