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Gesellschaft

„Er lügt, er glaubt nicht einmal an Gott!“

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Was ist mit denen, die gute Taten leisten, aber keiner Religion angehören? Vielen Predigern zufolge sind positive Handlungen nichts wert, wenn diese nicht im Namen der „richtigen“ Religion ausgeübt werden. Ist das richtig? (Foto: reuters)

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Als ich mit zwei zerstrittenen Schülern ein Klärungsgespräch führen wollte, sagte einer von ihnen zu mir: „Herr Öksüz, ich habe das wirklich nicht getan, ich schwöre, glauben Sie mir! Er lügt, er glaubt nicht einmal an Gott“.

Lügt jemand, weil er nicht an Gott glaubt? Warum wird in der heutigen Gesellschaft Moral mit Religion gleichgestellt? Wenn beides sich deckt und den Prozess, um das Gute in einem Menschen zu stärken und einen „guten“ Menschen zu formen, ist das zu begrüßen. Was aber ist mit denen, die gute Taten leisten, aber keiner Religion angehören? Vielen Predigern zufolge sind positive Handlungen in Form von Menschlichkeit und Nächstenliebe nichts wert, wenn diese nicht im Namen der „richtigen“ Religion ausgeübt werden. Ist das richtig?

Die Begriffe gut und böse werden oft für soziales Handeln verwendet. Gut oder böse sein oder eben gute oder böse Handlungen ausüben, liegt im Auge des Betrachters und seiner allgemeinen und individuellen Umwelt. Wieso einige Menschen Handlungen auf die Religion zurückführen, und sie manchmal ihrem Verstand vorziehen, ist nicht nur ein aktuelles Thema, über das in den Medien Debatten laufen.

Es gab und gibt unzählig viele traditionelle Religionen, moderne Überzeugungen, politische Ideologien und philosophische Wege auf der Welt. Neu daran ist, dass mit der Globalisierung dem Einzelnen sich mehr Möglichkeiten bieten, aus dieser Vielfalt eine Auswahl zu treffen. Das geschieht nicht zufällig, denn jeder von uns wächst von der Geburt an in einer bestimmten Tradition, Kultur, Religion und moralischen Wertewelt auf.

Der Sozialisationsprozess

Das nahe Umfeld prägt primär die Normen und Werte des Menschen, sodass es in erster Hinsicht keine völlig freie Entscheidung gibt. Was ist eigentlich die Aufgabe einer Religion im Sozialisationsprozess des Menschen und wieso gibt es sie immer noch, obwohl in ihrem Namen so viel Unheil angestellt wird? Brauchen Menschen unbedingt eine „Anleitung“, um ein guter Mensch zu sein?

Ich erlebe es tagtäglich als Lehrer im Unterricht, wie SchülerInnen streiten, debattieren und zanken. Die Debatte zwischen zwei Schülern, aus der ich den Satz am Anfang dieses Artikels verwendet habe, war für mich mehr als eine alltägliche Rauferei auf dem Schulhof und ließ mich wieder über diese Grundfragen nachdenken.

Das Gespräch mit den Schülern verlief in etwa so:

Maximilian: Herr Öksüz, der Furkan hat mich ohne Grund beleidigt und geschlagen. Schauen Sie sich mal meine Hose an, die war neu.

Ich: Beruhig Dich erst einmal, das wird sich sicherlich klären. Furkan, kommst du mal bitte zu mir?

Furkan: Hey ich schwöre, ich habe nichts gemacht, der labert nur Müll!

Ich: Wer sagt denn, dass du etwas schlimmes getan hast? Ich wollte mich nur kurz wegen dem Vorfall eben mit euch beiden unterhalten. Würdest du mir bitte erklären, was passiert ist, damit ich beide Seiten gehört habe?

Furkan: Wir haben nur Fußball gespielt, als Max mitspielen wollte, haben wir ihm nur gesagt, dass er in der nächsten Runde mitspielen darf. Dann heult der direkt rum.

Maximilian: Das stimmt nicht! Ihr habt mich beleidigt und behauptet, dass ich eh nicht spielen kann, und als ich versucht habe, mich zu wehren, hast du mich einfach so geschubst.

Ich: Wir sind jetzt nicht vor Gericht, niemand wird bestraft oder verurteilt. Wir sind unter Freunden, wenn jemand etwas getan oder gesagt hat, was nicht in Ordnung ist, dann stehen wir auch dazu. Richtig?

Furkan: Herr Öksüz, ich habe das wirklich nicht getan, ich schwöre, glauben Sie mir! Er lügt, er glaubt nicht einmal an Gott!

Ich: Furkan, seit wann kannst du in die Herzen der Menschen sehen, diesen Trick musst du mir bei Gelegenheit mal beibringen? Ob jemand an Gott glaubt oder nicht, spielt für den Wert eines Menschen doch keine Rolle. Jeder entscheidet für sich selbst, an was er glaubt. Ein „guter“ Mensch jedoch zeigt sich durch seine Handlungen. Er sagt die Wahrheit, unabhängig davon, woran er glaubt und ob er gläubig ist oder nicht. Glauben tut man für sich selbst. Ein guter Mensch ist man aber nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Mitmenschen.

Moral ohne Religion nicht denkbar?

Religion und Moral. Vernunft und Offenbarung. Ist Moral ohne Religion nicht denkbar? Unsere Alltagserfahrung lehrt uns, dass es keine klare Antwort auf diese Frage gibt.

Schon im jungen Alter bekommen Kinder und Jugendliche von den Erwachsenen vermittelt, dass Menschen, die einer anderen oder vielleicht gar keiner Religion angehören, kein guter Umgang für sie seien. Psychologen haben Statistiken geführt, die zeigen, dass eine Religion helfen kann, sich vor „schlechten“ Eigenschaften zu schützen. Menschen haben selbstverständlich einen eigenen Verstand und sollen diesen nutzen. Das Ziel einer Religion sollte es sein, ihre Anhänger für einen Dialog mit anderen Menschen zu motivieren.

Festgeschriebene religiöse Gebote und Normen ähneln einer Anleitung und sind für nicht wenige notwendige Regeln, um ihren Alltag zu bewältigen.

Warum fügen dann Menschen im Namen der Religion anderen Menschen und der Natur Schaden zu? Eine mögliche Erklärung ist, dass sie sich eine eigene Definition von Religiosität schaffen, bei der nicht die wahre Intention der Religion im Mittelpunkt steht, sondern ihre eigenen Schwächen, Wünsche und Bedürfnissen. Sie filtern sich einzelne Komponenten aus ihrem „Glauben“ heraus. In diesem Fall steht Religion unter der Herrschaft des Menschen und kann nicht das Positive, das Gute in ihm bewirken, was ihr eigentliches Ziel ist.

Es gibt viele Menschen, die das moralische Handeln nicht religiös begründen. Sie sagen zwar von sich, sie seien Atheisten oder Agnostiker, in ihrem „vernunftsorientierten“ Handeln beobachtet man jedoch viel gutes und nützliches für ihre Mitmenschen, die man sich von vielen „religiösen“ Menschen auch wünscht. Ob sie nicht eigentlich die „wirklichen Gläubigen“ sind, die, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Intention der Religion verwirklichen?

Autoreninfo: Umut Ali Öksüz arbeitet als Lehrer und Sozialtrainer in NRW und ist Dozent und Buchautor.