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Politik

Der Friedensprozess ist in Cizre gescheitert

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Die Lage in Cizre eskaliert: Heftige Feuergefechte, Gräben auf den Straßen, erschossene Kinder. Die Gewalt zwischen PKK, Sicherheitskräften und Mitgliedern der Hüda Par gefährdet den Friedensprozess in der Türkei. Eine Analyse. (Foto: cihan)

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Familienangehörige des zwölf-jährigen Nihat Kazanhan stehen während seiner Beeredigung an einer Anhöhung. Sie halten das Bild des getöteten Jungen neben ein Poster von Abdullah Öcalan.
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Anfang Januar 2015 in der Türkei: Der 2012 zwischen der türkischen Regierung und der Führung der terroristischen PKK begonnene Friedensprozess hält – trotz einiger „kleinerer“ Zwischenfälle. Auch wenn die türkische Öffentlichkeit keine verlässlichen Informationen darüber hat, was Inhalt der eigentlichen Verhandlungen ist, hoffen Menschen auf eine Fortsetzung des Prozesses – auf ein weiteres Jahr Frieden.

Anfang Januar 2015 in der südostanatolischen Stadt Cizre: Schweres Maschinengewehrfeuer, explodierende Granaten, heulende Sirenen, schreiende Menschen. Leuchtspurmunition zischt durch den Nachthimmel. Die kleine Stadt in der Provinz Şırnak mit etwa 100.000 Einwohnern erlebt seit etwa einem Monat eine Spirale der Gewalt. Darin verwickelt sind sowohl türkische Sicherheitskräfte, Angehörige der kurdischen Hür Dava Partisi (Partei der Freien Sache; Hüda Par) bzw. die mit ihr verbundene türkische Hisbollah als auch die PKK-Gruppierung YDG-H.

Cizre gehört seit Wochen zu den Top-Themen in den türkischen und kurdischen Medien. Die explosive Lage in der Stadt schürt in der Bevölkerung und unter Beobachtern die Angst vor einer Ausweitung der Spannungen und der Gewalt. Die Folge einer weiteren Eskalation der Gewalt könnte zum Abbruch des Friedensprozesses führen. Der türkische Innenminister Efkan Ala und sogar der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan warnten bereits vor einer weietren Zuspitzung der Lage.

Cizre – Was bisher geschah

Bereits im Oktober 2014 erschüttern blutige Straßenschlachten verschiedene südostanatolische Städte. Anlass für die Gewalt ist Belagerung der vorwiegend von Kurden bewohnten Grenzstadt Kobane im Norden Syriens durch den IS. Viele Kurden in der Türkei verfolgen die Kämpfe und das Leid der Kurden im benachbarten Kobane mit großer Anteilnahme. Militante kurdische Gruppen nutzen die emotionalisierte Athmosphere zur Agitation und rufen zur Gewalt gegen den türkischen Staat und gegen Mitglieder der Hüda Par auf. Die PKK ist an den Ausschreitungen durch die „Revolutionäre Patriotischen Jugendbewegung“ (türk. Yurtsever Devrimci Gençlik Harekatı, kurz YDG-H, kurd. Tevgera Ciwanen Welatparêz Yên Şoreşger) beteiligt.

Mindestens 35 Menschen sterben. Die Gewaltausbrüche stellen die massivsten Unruhen seit dem Beginn des Friedensprozesses dar. Auch Cizre ist Schauplatz von schweren Ausschreitungen.

Die auch als „Stadtguerilla“ bezeichnete YDG-H erklärt die beiden Nachbarschaften Nur und Sur in Cizre am 25. Oktober für autonom. Etwa 100 maskierte YDG-H-Mitglieder ziehen unter Mitführung von PKK-Fahnen mit einem Fackelmarsch symbolisch durch die Nachbarschaften. Die Gruppe verkündet, fortan keine türkischen Sicherheitskräfte mehr in der „autonomen Zone“ zu dulden. YDG-H-Mitglieder heben in den Nachbarschaften Nur, Sur, Yafes und Cudi Gräben aus, um ein Vordringen türkischer Polizeifahrzeuge zu verhindern. Einrichtungen der Hüda Par, die von der YDG-H als „ISIS in der Region“ bezeichnet wird, werden wiederholt angegriffen.

Mehrere türkische Thinktanks warnen zu diesem Zeitpunkt vor der Macht der YDG-H. Ankara habe in Teilen der Südosttürkei bereits sein Gewaltmonopol verloren, die YDG-H betreibe eigene „Sicherheitseinheiten“ und „Volksgerichte“ in den von ihr kontrollierten Vierteln. „Da erforderliche Sicherheitsmaßnahmen in der Region nicht mehr vorgenommen werden, ist ein Autoritätsvakuum entstanden, das durch die PKK gefüllt wird“, so Atilla Sandıklı, Vorsitzender des Weisenrates für Strategische Studien (Bilgesam).

Eskalation seit Ende 2014: Schießereien, Grabenkrieg und Mord an Kindern

Im Dezember 2014 spitzt sich die Lage in Cizre erneut dramatisch zu. Mindestens 7 Menschen werden ab Ende vergangenen Jahres bei bewaffneten Ausschreitungen der drei Konfliktparteien getötet. Es kommt zu Schießereien zwischen YDG-H-Kommandos, die sich den Angaben von hürriyetdailynews nach in Cizre auch „Tiger Team“ nennen, der „Şeyh Sait Youth“-Jugendorganisation der Hüda Par, die sich aus Mitgliedern der türkischen Hisbollah zusammengesetzt ist, und den türkischen Sicherheitskräften.

Die Lage bleibt lange Zeit unübersichtlich: Die Hisbollah-Mitglieder in Cizre tragen Uniformen, die denen der syrischen PKK-Ablegers YPG ähneln sollen. Außerdem melden verschiedene Medien und Aktivisten, dass in der Stadt Polizeifahrzeuge ohne offizielles Kennzeichen im Einsatz sind. Zudem sollen die Polizisten Waffen benutzen würden, die nicht zum offiziellen Inventar der Einsatzkräfte gehören. Weiterhin nehmen türkische Behörden Ende Dezember den Polizeichef von Cizre, Ozan Başurgan, fest.

Besonders besorgniserregend ist, dass vier der getöteten Personen Kinder oder Jugendliche sind: Yasin Özer (19), Barış Dalmış (14), Ümit Kurt (14) und das jüngste Opfer, der zwölf-jährige Nihat Kazanhan. Familienangehörige der Jungen und verschiedene kurdische Aktivisten beschuldigen die türkische Polizei, die kurdischen Jugendlichen mit gezielten Schüssen getötet zu haben. Nihat Kazanhan starb beispielsweise am 14. Januar durch einen Kopfschuss. Über diesen Fall hat ein türkisches Gericht am Freitag eine Nachrichtensperre verhängt.

Die PKK nahe Nachrichtenagentur Firatnews veröffentlichte am Mittwoch eine Stellungnahme der politische Organisation der PKK, der sog. „Koma Civakên Kurdistan“ (dt.: Union der Gemeinschaften Kurdistans, kurz KCK). Darin bringt die Gruppierung ihre Sorge vor einer Ausweitung der Gewalt zum Ausdruck und beschuldigt die AKP-Regierung, den Friedensprozess bewusst zu sabotieren. „Wir erachten es als wichtig, denjenigen, die den Friedensprozess sabotieren wollen, keinen Anlass (dazu) zu geben. Deshalb betonen wir erneut, dass es für all unsere Anhänger – allen voran für die Menschen in Cizre und die (Anhänger der) Jugendorganisation (YDG-H) – nötig ist, verantwortungsbewusst zu handeln und die Anstrengung (zur Beruhigung der Lage) von Apo (Bezeichnung für Abdullah Öcalan, Anm. d. Red.) zu unterstützen“.

Innenminister Ala, Öcalan und Demirtaş warnen vor Eskalation in Cizre

Auch der stellvertretende Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtaş äußerte sich in Bezug auf Cizre beunruhigt und bezeichnete die in der Türkei teilweise geäußerten Vorwürfe, die HDP würde die Unruhen weiter anfachen, als „falsch“. Demirtaş übte scharfe Kritik an der türkischen Regierung und bemängelte, das bisher noch kein Verdächtige in den Mordfällen identifiziert worden konnte.

„Im Endeffekt ist es die Grundaufgabe der Regierung, herauszufinden, wer verantwortlich ist und diese (Personen) dann der Justiz zu überstellen. Das ist nicht unsere Aufgabe. Es gibt 7 Morde und keinen einzigen Verdächtigen“, so der HDP-Politiker. Nur weitere demokratische Schritte könnten die Situation beruhigen, nicht aber eine bewaffnete Intervention, warnte Demirtaş weiter.

Die türkische Regierung legt indessen eine eigene Theorie zu den Morden in Cizre vor. Der stellvertretende Ministerpräsident Yalçın Akdoğan sagte am Donnerstag in einem Interview mit dem Fernsehsender Ülke TV, er vermute hinter den Taten „Provokateure“. Diese wollten „Cizre zu Kobane machen“.

„Dunkle Mächte sind dort im Spiel. (…) Wir haben beobachtet, dass sie offen an Provokationen beteiligt waren, die Ermittlungen laufen“, führte Akdoğan in dem Interview aus.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte am 20. Januar gesagt, er sehe hinter den Unruhen eine „Verschwörung“, für die er die Hizmet-Bewegung, die AKP-Regierung als „Parallelstruktur“ bezeichnet, verantwortlich. Damit setzt die türkische Regierung ihre derzeitige Strategie fort, für alle Missstände in der Türkei die Hizmet-Bewegung und den muslimischen Prediger Fetullah Gülen verantwortlich zu machen.

Parlamentswahl in der Türkei, Krieg in Syrien: Geringe Chancen für den Friedensprozess

Auffällig ist, dass scheinbar alle Akteure Schuldzuweisungen entschieden zurückweisen und vor einer Eskalation der Lage warnen. Doch selbst wenn man die Warnungen und die ihr scheinbar zu Grunde liegende Sorge aller Akteure um die Zukunft der Region ernst nimmt, so erschweren zwei Faktoren einen erfolgreichen Ausgang aus der verfahrenen Situation:

Erstens: In der Türkei stehen im Juni die Parlamentswahlen an. Alle politischen Akteure versuchen in dieser innenpolitisch sensiblen Phase Druck auf die jeweiligen Gegner aufzubauen, um sich zu profilieren. Die Geschichte der Türkei zeigt, dass sowohl die türkische Regierung als auch die terroristische PKK wenn nötig auch Gewalt als Druckmittel eingesetzt hat.

Zweitens: Die Kämpfe zwischen der YDG-H (bzw. der PKK) und der türkischen Hisbollah (bzw. der Hüda Par) hängen unmittelbar mit dem Bürgerkrieg in Syrien zusammen. In dem militärischen Arm der PKK in Syrien, der YPG, kämpfen auch hunderte, wenn nicht tausende Kurden aus der Türkei. Sicherheitsexperten gehen außerdem davon aus, dass der IS über ein großes Unterstützernetzwerk in der Türkei verfügt – kritische Stimmen sehen die türkische Hisbollah als Teil dieses Netzwerkes. Außerdem haben sich auch mehrere hunderte türkische Staatsbürger dem IS angeschlossen – auch kurdischer Herkunft. Der Kampf zwischen PKK und Hüda Par wird also seit Monaten im benachbarten Syrien ausgetragen. Ein gelegentliches Ausbreiten der Kämpfe in die Heimatregionen der Kämpfer der jeweiligen Fraktionen ist – besonders bei Beerdigungen gefallener Kämpfer – auch für die Zukunft zu erwarten.

In Cizre ist der Friedensprozess gescheitert. In der Türkei läuft er noch holprig weiter – vorerst.