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Politik

Der Putschversuch als Sternstunde: Wie das gesellschaftliche Klima den Weg in das Präsidialsystem bereitet

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Offiziell gilt die Türkei noch als demokratische Republik, im Lande hingegen herrschen seit langem keine demokratischen Zustände mehr. Vor allem die Presse ist seit langem im Visier des Präsidenten. Dabei geht es nicht nur um die Eingrenzung der Pressefreiheit für kritische Berichterstatter, sondern zugleich um die effektive Mediennutzung zu Gunsten des Präsidialsystems. Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 bildet dabei den Auftakt für eine ungeahnte Säuberungswelle, die es Erdoğan ermöglicht, sich in den Medien gekonnt in Szene zu setzen und das Plädoyer für ein Präsidialsystem an den Mann zu bringen.

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Bild des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan
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Mit steigender Popularität Erdoğans haben auch die Stimmen der Oppositionellen zugenommen: Nicht nur Politiker sondern auch namhafte Journalisten, die immer lauter auf die unaushaltbaren Umstände aufmerksam gemacht und in den Medien auf die Repressionsmaßnahmen hingewiesen haben, sind geflüchtet, sitzen im Gefängnis oder werden demnächst vor den Richter gestellt. Der Fall des Welt-Korrespondenten Deniz Yücel ist dabei nur der jüngste in einer langen Reihe. Die Liste derer, die unter den schwierigen Bedingungen bis zur Festnahme durchgehalten haben und bereit sind, weiterhin gegen die Regierung zu publizieren, ist sehr lang.

Als prominentestes Beispiel gilt Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet. Er publiziert weiterhin regierungskritisch aus dem Exil, nachdem er im November 2015 drei Monate in Einzelhaft verbrachte und nach Recep Tayyip Erdoğans Forderung zu lebenslanger Haft nach Deutschland geflohen ist. Während er dank eines Ersatzpasses frei durch Europas, jedoch nicht in die Türkei reisen kann, wurde seiner Frau der Pass am türkischen Flughafen entzogen. Dündar gibt nicht nach, gibt weiterhin in Deutschland Interviews und schreibt von dort aus weiterhin gegen die Zustände in seiner Heimat an.

Es ist, als wolle er die Pressefreiheit in vollen Zügen nutzen, die ihn im eigenen Lande verwehrt wurde. Überall willkommen, nur nicht mehr in der Türkei. Das Land, das vor wenigen Jahren noch als fortschrittlichste Nation im Nahen Osten galt und bis dahin eine Generation heranreifen lassen hatte, die kritisch, freiheitlich, modern und vor allem menschenfreundlich war, ist nun zum Jagdgebiet geworden, in dem sinnbildlich der Schuss auf alle Oppositionellen freigegeben ist.

Aslı Erdoğan ist ein weiteres Beispiel. Sie saß seit August 2016 für vier Monate in Untersuchungshaft, nachdem sie beschuldigt wurde,Volksverhetzung zu begangen zu haben. Das Gericht forderte schließlich Ende Dezember ihre Freilassung sowie die zweier weiterer Mitstreiterinnen.

Ahmet Şık, ein weiterer namhafter Journalist und Gewerkschafter, der gegen die Regierung gearbeitet und mit seinem investigativen Schreiben immer mehr politischen Einfluss gewonnen hat, ist als jüngstes Beispiel unter den „Kämpfern mit der Feder“ zu nennen. Er wurde ebenfalls verhaftet. Er sitzt bereits seit dem 29. Dezember letzten Jahres im Gefängnis und wartet auf seine Verhandlung. Der Anklagegrund: Er hätte auf Twitter die Regierung sowie die Streitkräfte diffamiert und terroristische Propaganda betrieben. Şık saß bereits zweimal in Haft, sein Buch „Die Armee des Imam“ wurde bereits 2011 noch vor der Publikation verboten. Zu gefährlich, zu aufrührerisch, der Regierung damals wie heute ein Dorn im Auge. Damals weil er Fethullah Gülen kritisierte, heute weil er unermüdlich Erdoğans Führungsstil hinterfragt.

Das Kader Erdoğans gibt den Ton an, wer was wann wie zu schreiben hat

Die meisten noch arbeitenden Redaktionen sind mittlerweile gleichgeschaltet, regierungskritische Berichte werden von den meisten Zeitungen erst gar nicht mehr verfasst. Das Kader Erdoğans gibt den Ton an, wer was wann wie zu schreiben hat.

Als Ausnahme gelten Zeitungen und Nachrichtenportale wie Bianet, Birgün oder Diken, die die letzten Bastionen der unabhängigen Presse in der sonst gleichgeschalteten Medienlandschaft der Türkei sind. Aber wie die oppositionelle Zeitung Cumhuriyet stehen auch sie seit Längerem auf der schwarzen Liste. Derzeit laufen bereits die Festnahmen, Gerichtsverhandlungen und Durchsuchungsbefehle auf Hochtouren. Fast täglich werden neue Namen Verhafteter, Verurteilter, Gesuchter, ermahnter oder entlassener Journalisten und Autoren veröffentlicht, deren Überblick zu behalten selbst den Berichterstattern anderer Zeitungen derweil schwerfällt. Geht es in dem Tempo weiter, dann wird es spätestens zum Jahrestag des abgewendeten Putschversuchs keine alternativen, unabhängigen und regierungskritischen Medien mehr geben. Das heißt, dass die Presse dann „undercover“ gehen muss, um die Leser mit unabhängigen Informationen zu versorgen. Can Dündar gilt als einer derjenigen, die genau dies wollen: Er will aus dem Ausland nicht nur weiterhin auf die Zustände in der Türkei aufmerksam machen, sondern darauf pochen. Denn die übrige Presse wird es dann nicht mehr tun können.

Seit 2015 schlagen sämtliche Organisationen Alarm: nicht nur wegen der Arbeitsbedingungen, sondern vor allem wegen der Haftbedingungen

Denn seit dem Putschversuch kamen 3 Nachrichtenagenturen, 16 Fernsehsender, 23 Radiostationen und 44 Zeitungen und 29 Verlagshäuser auf die Verbotsliste und wurden geschlossen. Weitere Schließungen folgten im September, so dass den Angaben von T24 zufolge, 140 Medien geschlossen wurden. Den Angaben der Zeit zufolge, wurden seither mindestens 118 Journalisten verhaftet, derzeit wird gegen 80 von ihnen ermittelt. 1656 Menschen wurden seither verhaftet wegen des Verdachts, Zusammenarbeit mit terroristischen Organisationen zu betreiben oder in den Medien staatsfeindliche Aussagen gemacht zu haben.

Die Türkei befindet sich laut dem World Press Freedom Index von Reporter Ohne Grenzen im Internationalen Ranking auf Platz 151 von 180 gewerteten Ländern – und das ist noch der Stand vor den gewaltigen Säuberungen nach dem Putschversuch. Laut einem Bericht der NGO Freedom House schlagen bereits seit 2015 auch andere internationale Organisationen wie Humans Right Watch oder Amnesty International Alarm nicht nur wegen der verschlechterten Bedingungen der türkischen Journalisten und deren Arbeitsbedingungen, sondern auch wegen deren Haftbedingungen. Denn unzählige Reporter, Karikaturisten oder Redakteure wurden festgenommen und unter Anwendung von Folter und Körperverletzung verhört. Die Verhörmaßnahmen wurden zuvor durch Gesetzesänderungen legitimiert.

Seine Ursprünge hat das Ganze bereits 2013, als sich Bürger, darunter auch viele Rechtsanwälte, Akademiker und Journalisten, landesweit während der Gezipark-Proteste in Istanbul solidarisierten und gegen die Regierung auf die Straße gingen. Selbst in den Urlaubsregionen war der Aufschrei groß. Im Dezember 2013 wurden Regierungsmitglieder der Korruption beschuldigt und unter Druck von Erdoğan entlassen. Als dann kurze Zeit später am 25. Februar 2014 ein Telefonat vom 17. Dezember 2013 des damaligen AKP-Vorsitzenden Erdoğan vom türkischen Geheimdienst MIT veröffentlicht wurde, aus dem hervorgeht, wie er seinen Sohn auffordert, alle Gelder aus dem Haus zu schaffen, und weitere Telefonate veröffentlicht wurden, aus denen hervorgeht, dass er gegen den Medienunternehmer Aydin Doğan und der Leitung der Koç Holding vorgehen möchte, geriet Erdoğan in die Zwickmühle.

Weitere Skandale wie die Waffenlieferungen an islamistische Milizen in Syrien, die durch Dündar aufgedeckt wurden, gehören zu den vielen darauffolgenden Skandalen. Als die AKP im November 2015 die absolute Mehrheit erlangte, machte sie ernst und ließ „gefährliche“ Journalisten, Autoren und Oppositionelle verhaften. Bis zum Putschversuch kamen Inhaftierte immer wieder durch Interventionen des Verfassungsgerichts frei.

Fragen wir uns also, weshalb es Erdoğan trotz der Skandale, Korruptionsvorwürfe und des massiven Widerstands möglich ist, an der Macht zu bleiben und weiterhin so viel Macht auszuüben.

Wie sich Erdoğan die Medien noch während des Putschversuchs zunutze gemacht hat

Was nach dem 15. Juli 2016 geschah, hat Erdoğan Tür und Tor für jegliche Entscheidungsbefugnis geöffnet. Noch während der Putschversuch im vollen Gange war, hat er die Gunst der Stunde genutzt und besondere Medienwirksamkeit erwiesen, indem er die Massen durch geschickte PR-Propaganda auf seine Seite gezogen hat.

Erdoğan, der nun als Staatspräsident mehr Macht denn je hat, übt seither Vergeltung an jenen, die ihm Steine in den Weg gelegt haben. Es sind Menschen, die Medienarbeit betreiben: Journalisten, Redakteure, Autoren, Schriftsteller, aber auch Gelehrte aus dem akademischen Bereich, die als Experten zu Fragen über Wirtschaft, Politik, Religion, Geschichte, Gesellschaft und natürlich über Medien zu Debatten im Fernsehen eingeladen werden. Es sind jene, die ihm bis zum Putschversuch im Bereich Justiz und Politik die Stirn geboten haben, indem sie nicht auf Drängen des Präsidenten Menschen willkürlich hinter Gitter gebracht haben. Es sind aber auch Menschen, die bereits 2007 und 2011 vor einer „Islamisierung des Landes“ gewarnt haben, sollte die AKP, und damit Erdoğan als Parteivorsitzender, weiterhin regieren. Immerhin äußerte Erdoğan noch vor Ernennung zum Präsidenten der Türkei gegenüber der Zeitung Milliyet, dass er Anhänger der Scharia sei.

In den vergangenen Monaten haben sich in der Türkei die Ereignisse überschlagen. Abgesehen von den fortlaufenden Verhaftungswellen, die seit dem Putschversuch andauern und Oppositionelle aus allen Bereichen in der Türkei betreffen, reihen sich die Nachrichten wie Perlen einer Kette dicht gedrängt aneinander:

Unmittelbar auf den Putschversuch folgen abertausende Verhaftungen im Bereich Militär, Justiz, Staatsapparat, Medien, Universitäten, Unternehmen und nicht zuletzt gegen aktiv gewordene Regierungsgegner aus der Zivilgesellschaft, wie jüngst eine kleine Gruppe Studenten in Istanbul, die in Cafés Flyer verteilen und andere Bürger ansprechen. Es sind nicht die anderen Menschen, die hohe Posten beziehen oder schon zuvor politisch aktive Gegner waren, sondern Menschen, die jeden Tag sowohl Nachrichten lesen als auch in ihrem Alltag die Beschränkungen spüren: Die Schule, an der man tagtäglich vorbeiläuft, wurde in eine Imam-Hatip-Schule umgewandelt, an den Metrostationen stehen parteitreue Islamisten, die mit Flyern gegen Weihnachten hetzen, junge Frauen werden aufgrund ihrer Kleidung am helllichten Tag vor Kaufhäusern von diesen zurechtgewiesen, immer mehr gibt es Ecken, in denen man ohne Kopftuch und körperverhüllende Bekleidung nicht mehr spazieren kann.

Klingt das nach Hinterdorf? Nein, diese Szenen finden landesweit statt, sogar in Großstädten wie Istanbul. Tagtäglich. Diese Beschreibungen sind nicht als Islamophobie zu verstehen, sondern als Notruf, dass Menschen, die bisher frei an Universitäten studieren konnten, Menschen, die bisher schreiben und veröffentlichen konnten, Menschen, die ein Feierabendbier trinken möchten, dies in naher Zukunft nicht mehr tun können, weil es andere Menschen gibt, die glauben, dass ihre Überzeugung und Lebensart die einzig richtige ist.

Ihre Argumente fußen auf der Religion, gleichzeitig treten sie deren Werte mit Füßen

Der Umbau der Türkei in eine Diktatur mit religiösem Anstrich ist im vollem Gange, alle notwendigen Vorbereitungen werden durchgeführt, sowohl die Säuberungsaktionen betreffend all jene, die für das „Projekt“ eine Hürde darstellen als auch der „Wiederaufbau der Säulen des Islam“. Weitere Maßnahmen im Schul- und Bildungswesen laufen, bei der Schulen nach dem Vorbild der Imam-Haiti-Schulen „islamisiert“ werden, indem Arabisch als Pflichtsprache an Schulen eingeführt wird und dafür die Evolutionstheorie aus dem Lehrprogramm gestrichen wird.

Aber auch im akademischen Bereich werden immer mehr Restriktionen vorgenommen, wie beispielsweise an der Boğaziçi Universität, die landesweit aber auch international als eine der renommiertesten Universitäten gilt. Im Dezember gab es Protestaktionen weil die Veranstaltung des Medienclubs „Medien und Macht“ abgesagt wurde. Darin ging es um die türkischen Medien, die im Zusammenhang mit der Regierung analysiert werden sollten. Damit wäre auch Erdoğans Politik und die effektive Mediennutzung zentrales Thema gewesen. Der Direktor der Schule, der mittlerweile ebenfalls durch Erdoğans Regierung eingesetzt wurde und  seinen Posten nicht nach dem üblichen Auswahlverfahren angetreten hat, hatte dıe Veranstaltung auf Wunsch der Regierung und des Bildungsministeriums verboten. Fragt man Verantwortliche im Bildungsministerium, kommen glattgebügelte aber dennoch schleierhafte Antworten, die nicht so ganz einleuchten wollen.

Ablenkungsmanöver: Skandale in der Türkei sind willkommen

Abgesehen von alldem begleiten Anschläge die politischen Ereignisse:

Die Explosion vor der Vodafone Arena in Istanbul, dann die Explosion eınes Busses in Kayseri, in dem zahlreiche Soldaten saßen, die Ermordung des russischen Botschafters. Danach wieder Explosionen oder Verdacht auf Anschläge, die immer wieder für Schlagzeilen sorgen und nicht zuletzt die Schießerei im Club Reina, in dem eın IS-Attentäter auf über 100 Menschen geschossen und 36 getötet hat. Er wurde schließlich nach guten zwei Wochen verhaftet.

Solche und unzählige weitere Nachrichten vermengen sich mit der derzeit aktuellen Debatte um das Präsidialsystem. Diese wird in den Medien immer dann zum aktuellen Tagesthema, nachdem ein Anschlag verübt wird, protestiert wird oder sich Menschen über die Zustände empören.Während Erdoğan auf Hochtouren das Präsidialsystem durchsetzen möchte und damit noch mehr Entscheidungsfreiheiten und einen größeren Befugnisbereich bekommen will, werden genannte Ereignisse von der türkischen Regierung zu ihren Gunsten genutzt. Die Korrelation aus allgemeiner Unsicherheit, die durch ständige Anschläge hervorgerufen wird, und das heroische Abbild Erdoğans auf den Titelseiten der großen Zeitungen vermitteln den Eindruck, dass er eine feste Säule inmitten des Chaos ist und die Situation im Griff hat. Ihm sind Nachrichten, die Menschen erschüttern und verunsichern, daher willkommen. So kann er sich ins rechte Licht rücken.

Das lässt sich beispielsweise an dem Anschlag vor der Istanbuler Vodafone Arena demonstrieren: Am 10. Dezember um 23.00 Uhr ist in der Nähe des Beşiktaş-Stadions eine Autombombe explodiert und eine weitere Bombe durch einen Attentäter in der Nähe des Maçka Parks gezündet worden. 38 Menschen kommen ums Leben, davon 30 Polizisten und 8 Zivilisten. Zwei Stunden nach Spielende der Partie Bursaspor gegen Beşiktaş hatte sich die Explosion zugetragen. Darüber hinaus wurden mehr als 160 Menschen verletzt. Die Verwundeten wurden in die umliegenden Krankenhäuser eingeliefert.

Zusätzlich haben Augenzeugen von mehreren Schüssen berichtet, die abgefeuert wurden. Der Knall der Explosion war bis auf die asiatische Seite Istanbuls vernehmbar. Wie Aufnahmen von Augenzeugen im Netz zeigen war die Detonation deutlich zu sehen und zu hören. Weitere von Augenzeugen veröffentlichte Bilder zeigen unzählige Krankenwagen, die unmittelbar nach dem Anschlag im Konvoi eingetroffen waren. Auf einem der Bilder sind Feuerwehrmänner auf dem Dach des Stadions zu sehen. Sie bergen die Reste einer Leiche.

Die Terrororganisation TAK, ein Ableger der PKK, hat sich zu dem Anschlag bekannt. Er galt dabei nicht in erster Linie Zivilisten oder Fußballfans sondern Erdoğan, der sich zu dem Zeitpunkt in der Nähe des Dolmabahçe-Palastes und damit in unmittelbarer Nähe des Stadions aufgehalten haben soll. Viele sehen in dem Anschlag eine Antwort auf Erdoğans Vorhaben, das Präsidialsystem einführen zu wollen. Seitens der TAK wurde dies jedoch nicht bestätigt.

Die mediale Aufmachung am Folgetag

Trotz der zahlreichen Verluste an Menschenleben und der vielen Verletzten war in den Zeitungen am Sonntag auf der Titelseite ganz groß Erdoğan zu sehen. Mal wurde ihm der Glückwunsch zu seinem Vorhaben, das Präsidialsystem einführen zu wollen, ausgesprochen. Andere Male ist die Rede von einer neu angebrochenen Ära oder einem bevorstehenden grundlegenden Wandel für die Nation. Ganz gleich, wie unterschiedlich die Aufmachung ausfällt und die Tageszeitungen davon berichten: Jedes mal ist Erdoğan auf der Hälfte des Titelblatts zu sehen, jedes mal in erhabener Pose. Die Angriffe in der Vornacht sowie die zahlreichen Verletzten und Toten wurden daneben lediglich als Randnotiz vermerkt, wie in der Zusammenstellung der namhaften Zeitungen zu sehen sind. Diese Zeitungen sind bereits gleichgeschaltet und berichten nur regierungskonform.

Die Medien sind schon längst gleichgeschaltet, wer nicht kuscht, wird gejagt, vernommen, und ohne einen fairen Prozess eingesperrt.

Umso mehr erscheint die Gewichtung der Nachrichten derzeit wie eine Maskerade. Er bestimmt nicht nur, wovon berichtet werden darf, sondern auch, in welcher Form. Mit solchen PR-Methoden wird einerseits die bevorstehende Machterweiterung des Präsidenten angekündigt, anderseits aber auch seine gegenwärtige Macht im Lande demonstriert: Nämlich dass Erdoğan, seine Partei und seine Pläne Priorität Nummer 1 sind; selbst dann, wenn zahlreiche Menschen bei Anschlägen getötet und verwundet werden.

Es gelte, die „Kinder der Nation“ zu schützen – damit sind nur die Polizisten gemeint.

Abgesehen von kritischen Stimmen ist selbst Objektivität der noch berichtenden Zeitungen unerwünscht. Ohne anmaßen zu wollen, dass die Anschläge seitens der Regierung erwünscht oder gar provoziert wurden, setzt sich die Regierung dennoch gerade nach solchen Vorfällen gekonnt in Szene indem sie anweist, Erdoğan auf der Hälfte der Titelseite mit Glückwunschbekundungen abzudrucken und davon zu berichten, dass er und die betreffenden Minister, die als Erdoğans wichtigste Regierungsverbündete gelten, die Verwundeten unmittelbar nach den Anschlägen in den Krankenhäusern besucht haben. Sicherlich sollte dieser Einsatz und der Beistand gelobt und auch in den Medien erwähnt werden, aber nicht dazu genutzt werden, andere Missstände zu übertünchen oder sie als Einleitung und Werbung für ein angestrebtes Präsidialsystem zu nutzen. Er ließ in den Medien verkünden, dass „Anschläge wie diese nicht ungesühnt bleiben und mit mehr Härte als bislang bestraft werden.“ Es gelte, „unsere Kinder“ zu schützen. Damit sind vor allem die Polizisten gemeint, die bei den Anschlägen ums Leben kamen, verwundet wurden, aber auch jene, die mit Sicherheit noch viele Kämpfe in Zukunft für die Regierung überstehen müssen.

Auch Polizisten sind Menschen, natürlich sind auch sie vom Staat zu schützen. Aber eben nicht ausschließlich, denn andere „Schützlinge“ Erdoğans, also die Zivilgesellschaft, aus der die meisten kritischen Stimmen hervorgehen, werden mittlerweile wie Stiefkinder behandelt: Ermittlungen, Verhaftungen durch unterstellte Bezichtigungen. Man sei Gülen-Anhänger, man unterstütze terroristische Netzwerke, man sei aufrührerisch und versuche, das Volk gegen die Regierung aufzuhetzen. Das sind die gängigen drei bis vier Anklagepunkte, die von der Staatsanwaltschaft vor die Richter gebracht werden.

Er, der Landesvater, der seinen Schützlingen beisteht – und dabei bereit ist, in seinem Kampf gegen den Terror ein ganzes Volk zu opfern. Es geht dabei schon längst nicht mehr um Gut oder Böse. Denn Erdoğans Interesse liegt nicht in erster Linie darin, die Staatsgewalt oder Menschen per se zu beschützen. Sie sind nur das nötige Instrumentarium, mithilfe dessen Erdogan weiterhin an der Macht bleibt. Sie im Krankenhaus zu besuchen ist das Mindeste, was er tun sollte.

Solche Auftritte, bei denen er sich in Szene setzen kann, sind dabei bereits längst einstudiert: So der Suizidversuch eines jungen Mannes, den Erdoğan abgewehrt hat und bei dem er „zufällig“ gefilmt wurde. Ein anderes Mal gibt er sich als Sportler und tritt gemeinsam mit Fußballspielern im Stadion auf oder wird beim Joggen durch einen Kameramann begleitet. Seine Laufbahn ist durchzogen von der effektiven Mediennutzung, zunächst in Live-Sendungen und bestellten Kamerateams, danach immer mehr durch die Kontrolle über die Medien. Viele Kanäle wurden bereits geschlossen, es gibt kaum noch Sender, die unabhängig berichten können. Andere Kanäle, die Erdoğan nicht schließen lassen kann, verwarnt er mit Bußgeldern, weil sie kritische Berichte zu seiner Politik ausgestrahlt haben. Als Beispiel ist die Doğan Media Holding zu nennen, zu der viele Kanäle wie atv, star, star TV, Kanal D oder CNN Türk gehören.

Es sind nicht die Parteianhänger oder Sympathisanten, die die Regierung stark machen, es ist die Angst und Hoffnungslosigkeit der breiten Masse

Auch in den Sozialen Medien nehmen die Likes zu Kommentaren, die sich kritisch zur Regierung äußern, ab. Seit Erdoğans Drohung, jeder, der sich gegen die Regierung stellt, würde geahndet werden, haben die Leute Angst vor freier Meinungsäußerung. Menschen, die sich dieser Angst nicht beugen und sich weiterhin kritisch zur Regierung oder zu Erdoğan äußern, Menschen, die auf die Straße protestieren gehen und zum Widerstand aufrufen, werden verhaftet. Nur wird dies immer weniger in den Medien gezeigt. Dadurch wird den Menschen vermittelt, dass alle Bürger mit der Regierung d’accord sind und dass es sich nicht lohnt, sich gegen die politischen Verhältnisse aufzulehnen. Man stünde eh allein damit.

Es sind daher nicht die Parteianhänger oder Sympathisanten, die die Regierung stark machen, es ist die Angst und der Unmut, dıe Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit der breiten Masse: Sie äußern sich weder auf Arbeit, noch in der Öffentlichkeit zu den politischen Ereignissen. Wer nicht zu den engsten Freunden gehört, wird kaum wissen, was man von der Regierung denkt. Ganz nach der Devise „Schweigen ist Gold“, heißt weniger mitteilen und wissen, mehr Absicherung.

Denn selbst patriotische, nicht-regierungskritische, jedoch freie und unvoreingenommene Gedankengänge, die im Diskurs zur Verfügung gestellt werden, können dazu führen, dass man als „Pro“ oder „Contra“ eingestuft wird. Ist der Stempel einmal aufgedrückt, lässt er sich nicht mehr wegwischen. Menschen achten in der Türkei daher sehr darauf, was sie sagen und wo sie sich äußern. Keiner äußert sich klar zu dem was, was er wirklich denkt. Es sind immer allgemein gehaltene Aussagen, abwägende kurze Monologe, verschlüsselte Meinungen, wenn man direkt versucht, darüber mit Fremden zu reden. Während die ältere Generation und vor allem junge Studenten eher offen für solche Dialoge sind und darüber sprechen, versperren sich vor allem Arbeitstätige oder Arbeitslose solchen Fragen. Sie haben Angst, ihren Job zu verlieren oder erst gar keinen zu bekommen, sollte herauskommen, dass sie in solchen Fragen klar kritisch Stellung beziehen.

Auch im privaten Bereich gehen Familien, Freundeskreise, nachbarschaftliche Beziehungen an diesen Differenzen kaputt. Nicht laut im Streit, sondern still im Rückzug und durch den Abbruch jeglicher Kommunikation. Viele wissen nicht, ob der Nachbar, der Kollege oder selbst der Kumpel spätestens nach dem Putschversuch einen Sinneswandel erfahren hat, „die Seite gewechselt“ hat oder auch nur „moderater“ als zuvor der Regierung gegenüber eingestellt ist. In schlimmeren Fällen werden die Leute sogar denunziert, wie in den Medien berichtet wird.

Viele tun solche Nachrichten ab, sagen, die Medien übertrieben oder wenn solche Menschen tatsächlich verraten wurden, dann bestimmt, weil es einen guten Grund dafür gab. Beispielsweise weil sie provoziert haben, indem sie an Protesten teilgenommen oder diese sogar angezettelt haben, weil sie Alkohol in der Öffentlichkeit getrunken und damit religiöse Passanten oder Anwohner herausgefordert haben, weil sie sich gegen Autoritäten beleidigend geäußert hätten. Wie auch immer die Rechtfertigungen für nicht rechtmäßige Ermittlungen, Verhaftungen und Hausdurchsuchungen oder Gewaltanwendung seitens der Staatsgewalt lauten, und ganz gleich ob sie stattfinden und ob sie in der angegebenen Zahl stattfinden, erfüllen solche Nachrichten vermengt mit Anschlägen ihre Wirkung: Angst, Verunsicherung. Folge ist die Hinwendung zu einem Präsidenten, der die Situation im Griff zu haben scheint und die Faust noch fester ballen wird gegen seine politischen Gegner – nämlich indem er das Präsidialsystem durchsetzt.