Gesellschaft
Geburtenrate sinkt in muslimischen Ländern stärker als im Westen
Eine Studie kommt zu dem unerwarteten Ergebnis, dass sich in den arabischen Staaten und in der gesamten islamischen Welt tiefgreifende Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung bereits jetzt dokumentieren lassen. (Foto: rtr)
In der westlichen Welt wird in vielen akademischen und politischen Kreisen die Ansicht vertreten, dass „muslimische Gesellschaften“ besonders widerstandsfähig gegen den demografischen und familiären Wandel wären. Seit Jahren wird von einigen Bewegungen und Berliner Buchautoren vor der stillen „Islamisierung Europas“ durch „gebärfreudige muslimische Familien“ gewarnt.
Eine im Dezember 2011 veröffentlichte Studie des renommierten Demografen Dr. Nicholas Eberstadt* kommt zu dem unerwarteten Ergebnis, dass sich in den arabischen Staaten und in der gesamten islamischen Welt tiefgreifende Veränderungen in der Bevölkerungsentwicklung bereits dokumentieren lassen.
Die Studie „Fertility Decline in the Muslim World: A Veritable Sea-Change, Still Curiously Unnoticed“ enthält Daten aus 49 Ländern und Regionen mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit und zeigt, dass dort zwischen den Jahren 1975-80 und 2005-10 die durchschnittliche Geburtenrate um 41 Prozent gesunken ist. Zum Vergleich sank im selben Zeitraum die Geburtenrate im Rest der Welt um 33 Prozent. 22 muslimische Länder verzeichneten sogar einen Rückgang der Geburtenrate von 50 Prozent und mehr.
Geburtenrückgang innerhalb von 30 Jahren um 70 Prozent – nicht in Brandenburg, sondern der Islamischen Republik Iran
Die stärksten Einbrüche der Geburtenzahlen haben sich der Studie zufolge im Iran, in Oman, in den Vereinigten arabischen Emiraten, Algerien, Bangladesch, Tunesien, Libyen, Albanien, Katar und Kuweit vollzogen. In all diesen Ländern wurde ein Rückgang um 60 Prozent und mehr dokumentiert.
Besonders drastisch ist die Entwicklung in der Islamischen Republik Iran, wo in den letzten 30 Jahren ein Geburtenrückgang um über 70 Prozent feststellbar ist. „Das ist einer der schnellsten und ausgeprägtesten Geburtenrückgänge, der jemals in der Geschichte der Menscheit verzeichnet wurde“, sagte Dr. Eberstadt. Im Jahre 2000 war die Geburtenrate auf durchschnittlich zwei Kinder pro Frau gefallen und lag somit erstmals unter dem für eine stabile Bevölkerungszahl erforderlichen Wert von 2,1 Kindern pro Frau.
Großstädte in der islamischen Welt erleben einen besonders deutlichen Rückgang der Geburtenzahlen. So seien die Geburtenraten nur in sechs amerikanischen Bundesstaaten niedriger als die in Istanbul und in keinem Bundesstaat würden weniger Kinder pro Frau geboren als in Teheran oder Isfahan. „In den arabischen Staaten war der Rückgang der Geburtenrate der letzten Generation schneller als irgendwo sonst auf der Welt“, gab der Demograf an. Seinen Ergebnissen zufolge sind die Geburtenraten der islamischen Länder meist schon niedriger als die der lateinamerikanischen, afrikanischen oder asiatischen Länder.
Arabische Staaten werden zukünftig auch mit einer alternden Bevölkerung konfrontiert sein
Eberstadt argumentiert in seiner Studie, dass der weltweite Rückgang der Geburtenraten nicht ausschließlich auf steigende Einkommen und eine positive wirtschaftliche Entwicklung in einigen Ländern zurückzuführen sei. Das Phänomen der „Flucht vor der Ehe“ benannte Dr. Eberstadt auf der Präsentation einer Studie in Doha letzten Monat als eine wichtige, den Rückgang der Gebrutenrate begleitende Entwicklung.
Die von ihm erhobenen Daten zeigen, dass Männer und Frauen in vielen Regionen der Welt später oder gar nicht mehr heiraten. Auch steige der Anteil von außerehelichen Geburten und die Scheidungsrate.
In der arabischen Welt sei der Anteil der verheirateten Menschen zwar vergleichsweise hoch, jedoch scheint sich die Entwicklung in diesen Ländern der Bevölkerungssituation in Europa anzunähern. Die „Flucht vor der Ehe“ sei „nach einigen Untersuchungen etwa auf dem Stand wie in Europa in den Achtziger Jahren – und dies geschieht (in den arabischen Ländern nun) auf einem viel niedrigeren (wirtschaftlichen) Entwicklungsgrad als damals in Europa und Ostasien“, erklärte Dr. Eberstadt. „Etwas wirklich Großes ist da im Gange – und praktisch niemand hat davon Notiz genommen, nicht einmal in der arabischen Welt selbst.“ Die arabischen Staaten erleben momentan noch einen extremen Überschuss an jungen Menschen, der gesellschaftliche Unruhen wie etwa in Tunesien und Ägypten noch zusätzlich anheizt. Doch die Daten Dr. Eberstadts geben einen Ausblick auf die Zukunft der Region, die demnach geprägt sein wird durch einen steten Rückgang der Menschen im arbeitsfähigem Alter und eine schnell alternde Bevölkerung.
Die arabischen Staaten erleben nach Dr. Eberstadts Worten momentan ein „Jugendbeben“, entwickeln sich aber schnell auf ein gesellschaftliches Dilemma hin: die Versorgung einer großen, alternden Bevölkerung durch zahlenmäßig weniger, oft geringverdienende junge Menschen. Auch in Deutschland spielt der Geburtenrückgang unter türkischen Mitbürgern eine zunehmend bedeutende Rolle.
*Dr. Nicholas Eberstadt promovierte an der Harvard Universität und ist Volkswirt und Demograf. Er fungiert als renommierter Berater der Denkfabrik „National Bureau of Asian Research“ und seine Themenschwerpunkte sind Wirtschaft, Entwicklungshilfe und Demografie, besonders der Regionen Korea, Ostasien und Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Er hält einen Lehrstuhl am „American Enterprise Institute for Public Policy Research“ (AEI), einer konservativen amerikanischen Denkfabrik.