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Gesellschaft

Die Moderne und der Umgang mit Andersgläubigen

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In der Religion ist die Sache klar: Es ist die Pflicht der Muslime, ob Amtsträger oder Normalbürger, Minderheiten in ihren Freiheiten zu schützen. Moderne Verfassungsstaaten schützen den Bürger abseits von Mehrheitsverhältnissen. (Foto: reuters)

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Kirche, Moschee und Synagoge nebeneinander in Kairo.
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Der Umgang mit Minderheiten ist ein Thema, über das es viel zu sagen gibt und welches ich dennoch, seit diese Frage erstmals bei mir eintraf, nicht gerne behandeln wollte. Aber letztendlich war es nicht möglich, sich davor zu drücken.

Es gibt darüber viel zu sagen, weil die Angelegenheit so unterschiedliche Dimensionen in sich birgt. Ja, es ist ein religiöses, aber ebenso ein historisches, politisches, sowie, was mich so zurückhaltend macht, ein aktuelles Thema. Um es ohne Ausschweifung zu formulieren: „Sind denn die Minderheiten uns Anvertraute?“ Ihr werdet schon von Euch aus vermutet haben, dass die von mir erwartete Antwort sich auf die Religion beziehen wird.

Um auf diese Frage eine richtige Antwort geben zu können, sollte man zuerst klären, was die Begriffe „Minderheit“, „wir“ und „das Anvertraute“ jeweils bedeuten. Ich meine damit nicht die lexikalischen Bedeutungen dieser Worte und Begriffe. Diese sind ja mehr oder weniger klar. Vielmehr ist hier der Kontext im täglichen Sprachgebrauch wichtig.

Was besagen die Begrifflichkeiten?

Klären wir also erst mal den Begriff „wir“. Wir sind Menschen, die auf dem Territorium der Türkei leben und bezüglich der Religion für sich den sunnitischen Islam gewählt haben. Wer also ist „Minderheit“? Es sind vor allem die Nichtmuslime, egal, welche Religion auch immer außerhalb des Islam sie für sich gewählt haben.

Was birgt nun das Prinzip des „Anvertraut-Seins“ in sich, worum geht es? Es geht vor allem um den Schutz der religiösen Freiheiten von Minderheiten, d. h. der Nichtmuslime, im steten Bewusstsein des „Anvertraut-Seins“, egal ob nun durch Hoheitsträger aus dem Bereich der Verwaltung oder durch einfache Bürger; wie durch „das System“, so eben auch durch die Muslime selbst.

Wenn wir es aus historischer Sicht betrachten, gibt es historische Tatsachen und religiöse Grundlagen, welche diesen Rahmen, den wir durch kurze Beschreibungen genau zu bestimmen versuchen, bestätigen. Sind es doch auch gerade diese Umstände, welche uns sagen lassen, dass Minderheiten „Anvertraute“ seien.

Was sind nun diese Grundlagen und Tatsachen? Zuallererst handelt es sich hier um all die Textgrundlagen aus dem Koran und der Sunna, welche im theoretischen Sinne die Frage der Religionsfreiheit betreffen. Zu den ersten Beispielen, welche einem diesbezüglich in den Sinn kommen, gehört der Vers, wonach es in Bezug auf Religion keinen Zwang gebe, sowie der Hadith, welcher erklärt, dass – mit der Bedingung, sich treu an die Vereinbarungen bezüglich des Zusammenlebens zu halten -, die Nichtmuslime unter dem Schutz Gottes und des Propheten stehen und dass all jene Personen, die gegen diesen Schutz opponieren, im nächsten Leben den Gesandten Gottes gegen sie gerichtet finden werden.

Mal abgesehen von einigen Ausnahmen der Geschichte lassen sich, beginnend mit dem Zusammenleben der Nichtmuslime und Polytheisten in Medina (nach der dortigen Gemeindeordnung) bis hin zu den Osmanen zahlreiche anschauliche Beispiele dazu aufzählen.

Der Postnationalstaat und sein Bürgerkonzept

Bis hierhin ist alles offenkundig; wenn wir das Ganze aus dieser Perspektive betrachten, dann erscheinen alle Reden völlig verständlich, wonach die Nichtmuslime sowohl aus Sicht des Verwaltungssystems als auch aus Sicht des muslimischen Volkes in einer politischen Ordnung, in der islamische Werte maßgeblich sind und eine Gesellschaftsordnung mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung herrscht, Anvertraute seien.

Aber: Heute ist nicht Gestern. Inzwischen haben sich in unserem politischen und gesellschaftlichen Leben recht viele Dinge geändert. So gibt es jene politischen und organisatorischen Strukturen nicht mehr, in welcher die religiösen Werte favorisiert worden waren. Die Zeit der Imperien ist längst Vergangenheit.

Doch auch die Praxis der Nationalstaaten, welche aus der Industrialisierung geboren worden waren, ist beinahe schon wieder Geschichte. Staatsbürger eines anderen Landes zu werden, wo weder Religion noch Rasse einen gemeinsamen Nenner bilden, ist heute eine alltägliche Sache. Das vordergründige Element einer solchen Ordnung ist die Gleichheit. Die Unterscheidung nach Religion, Sprache, Geschlecht und Konfession widerspricht inzwischen den Prinzipien des natürlichen Rechts ebenso wie nationalen und internationalen Vereinbarungen. Die Gleichheit vor dem Recht und gegenüber den Gesetzen ist ein grundlegendes und unaufhebbares Prinzip.

Die nichtmuslimischen Bürger – bitte beachten Sie den Ausdruck „Bürger“ – innerhalb dieser Ordnung eine Minderheit zu nennen, widerspricht den vorhandenen Tatsachen und ist zugleich verletzend. Und daran ändert selbst die Tatsache nichts, dass es sich dabei tatsächlich um einen kleinen Teil der Bevölkerung handelt. Anders gesagt: Es ist herabsetzend, diese Bürger im Rahmen des Prinzips der Religionsfreiheit eine Minderheit oder Anvertraute zu nennen, trotz der Rechte, welche das natürliche Recht und das positive Recht für sie konstituieren.

Wandel in der Geisteshaltung nötig

Es ist vollkommen natürlich, dass Menschen sich durch die Bezeichnung als „Anvertraute“ gestört fühlen, da sie doch, vom Wehrdienst zur Steuerlast, alle Lasten der Gesellschaft mit den Angehörigen der die Mehrheit konstituierenden Rasse und Religion gemeinsam schultern.

Etwas Empathie zu üben dürfte ausreichen, um diese Tatsache zu verstehen. Oder als Muslim in einem nichtmuslimischen Land zu leben, in welchem die Staatsbürger keinerlei unterschiedliche Behandlung erfahren bezüglich Religion, Rasse, Geschlecht und dergleichen, stattdessen gleich behandelt werden. So gibt es insbesondere in westlichen Ländern, in denen die Demokratie sich gefestigt hat, auch nicht mehr nur theoretisches Gerede dieser Art. In der Praxis gibt es sicherlich einige Ausnahmen. So gibt es an den politischen Rändern radikale Bevölkerungsgruppen, welche dies nicht akzeptieren wollen. Doch das ändert nichts daran, dass die oben beschriebene Form der Umsetzung des republikanischen Prinzips entscheidend ist.

Um es zusammenzufassen: Es bedarf eines Wandels in der Geisteshaltung. Von einem solchen Wandel der Geisteshaltung hängt der Wandel in der Rede und im Handeln ab. Solange sich ein solcher Wandel nicht verwirklicht, werden wir wohl noch oft die Worte von „Minderheiten und Anvertraute“ hören müssen.

Autoreninfo: Ahmet Kurucan ist Islamtheologe und Journalist. Er schreibt für „Zaman“.