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Gesellschaft

Stadterneuerungsprojekte vertreiben immer mehr Menschen

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Staatliche „Renovierungsprojekte“ verändern ganze Stadtviertel der türkischen Metropole: Menschen werden umgesiedelt, alte Häuser abgerissen, neue Gebäude hochgezogen. Aber nicht immer können die Menschen in ihre Wohnungen zurückkehren.

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Stadterneuerungsprojekte vertreiben immer mehr Menschen
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Istanbul erlebte erst kürzlich mehrere Demonstrationen gegen Stadterneuerungsprojekte, welche momentan in verschiedenen Vierteln der Metropole durchgeführt werden. Die Bewohner der betroffenen Gebiete seien nach eigenen Angaben weder über die Konsequenzen des Projekts für ihre Wohngegend noch über die Zukunft ihrer renovierten Wohnungen informiert worden.

Die Presse berichte meist nur über die Zahl der zu renovierenden Gebäude, ohne dabei verlässliche Informationen zum Verlauf der Bauarbeiten bereitzustellen. Auch fehle eine Berichterstattung über die negativen Folgen früherer Projekte, welche die Einstellung der Menschen zu erneuten Stadterneuerungsprojekten beeinflussen könnten. Anstatt einen guten Ruf als notwendige Lösungen von infrastrukturellen Problemen zu genießen, gelten Renovierungsprojekte als großflächige, technokratisch umgesetzte Vorhaben, die Menschen als Vertriebene zurücklassen.

Das „Sulukule Stadterneuerungsprojekt“, das im Jahr 2007 im gleichnamigen Viertel des Stadtteils Fatih begonnen hatte, löste unter den Menschen eine heftige Debatte aus. Offizielles Ziel des Projektes war, die Lebensbedingungen der Bewohner des Viertels zu verbessern. Die Regierung garantierte den Bewohnern von Sulukule während der Renovierungsarbeiten einen Umzug in Häuser, die vom Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung der Türkei (TOKI) gebaut werden würden. Der Umzug der Anwohner in die TOKI-Wohnhäuser brachte jedoch etliche Probleme mit sich. Die hohen Instandhaltungskosten der Wohnungen führten dazu, dass sich viele der ehemaligen Bewohner von Sulukule für ein Leben in einem anderen Teil der Stadt entschieden. Später wurde das Projekt aus Gründen der Unrentabilität für die Bewohner von einem Gericht aufgehoben.

Viele Menschen protestieren auch gegen ein Renovierungsprojekt, das immer noch in der Ortschaft Tarlabaşı im Stadtteil Beyoğlu vorangetrieben wird. Das „Tarlabaşı-Projekt“ wurde zunächst mit der Begründung eingeleitet, die historischen Siedlungen der Ortschaft erhalten zu wollen. Aber nach Angaben von Sachverständigen hätten sich die Beamten während der Renovierung des Gebietes nicht an das „Gesetz zum Schutze vor dem Verfall des historischen und kulturellen Erbes“ gehalten. Statt eine Restauration der alten Gebäude durchzuführen, trugen die Verantwortlichen des Projektes die historischen Gebäude und Büros ab und errichteten an deren Stelle moderne Bauten.

Okmeydanı-Projekt: 50.000 Gebäude sollen abgerissen werden

Solche Endergebnisse von Langzeit-Stadtprojekten verursachen Besorgnis unter jenen Menschen, deren Behausungen und Ortschaften durch den Staat „renoviert“ oder neu gestaltet werden sollen. Das Anfang Oktober begonnene „Okmeydanı Stadterneuerungsprojekt“ ist das jüngste staatliche Vorhaben, das Demonstrationen und harsche Kritik auf sich zieht. Medienberichten zufolge unterscheidet sich dieses Projekt von bisherigen alleine schon durch die riesige Fläche, die durch das Projekt betroffen sein soll. Ein immerhin 80-mal größeres Gebiet als noch beim Tarlabaşı Projekt ist diesmal für eine „Renovierung“ vorgesehen. Es wird vermutet, dass nicht weniger als 50.000 Gebäude abgerissen werden sollen.

Letzte Woche protestierten Bewohner des Gebietes mit einem Marsch gegen das Projekt und berichteten der Presse, mehr als 60.000 Menschen würden im Zuge der Arbeiten eine Vertreibung fürchten. Experten allerdings behaupten, diese Stadterneuerungsprojekte hätten keinesfalls die Intention, die Menschen umzusiedeln. Die Aufgabe dieser Projekte sei es vielmehr, erdbebensichere Gebäude zu errichten und moderne Viertel zu schaffen. Das Hauptproblem, so Experten, würde durch die Unstimmigkeiten zwischen den Bewohnern und der jeweils zuständigen Stadtverwaltung verursacht.

Ein für ein Stadterneuerungsprojekt in Zeytinburnu verantwortlicher Bauingenieur sagte in einem Interview mit „Sunday’s Zaman“, dass es einige Möglichkeiten gäbe, die Renovierungsprojekten so auszuführen, dass die Zustimmung der Bewohner sichergestellt wäre.

Nach Angaben des Ingenieurs würden die Bewohner der rekonstruierten Gebäude am Ende des Projektes kostenlose Appartements erhalten, die jedoch verglichen mit den ursprünglichen Behausungen um 30 Prozent kleiner ausfallen würden. Somit dürften jedoch weiterhin Unstimmigkeiten zwischen den Betroffenen und den Stadtverwaltungen auftreten, da Erstere sich gegen diese Zwangsverkleinerung ihrer Wohnungen zur Wehr setzen würden.

Vereinbarungen müssen beiderseits eingehalten werden

Der erfahrene Ingenieur spricht auch eine weitere Herausforderung im Rahmen der Projekte an: „Selbst wenn die Menschen eine Übereinkunft, bezüglich des Projektes mit der Regierung und den Stadtverwaltungen erreichten, würden sich einige der Anwohner nicht an die Versprechen halten, die sie gegenüber den Behörden gemacht hatten, zum Beispiel hinsichtlich des rechtzeitigen Auszugs aus ihren Wohnungen, was zu einer Verzögerung der Pläne führen und so die Befürchtungen der Menschen weiter verstärken würde.“

Tayfun Kahraman vom Türkischen Kammerverband für Ingenieure und Architekten (TMMOB) unterstrich ebenfalls die Wichtigkeit der Einhaltung der zwischen den Bewohnern und den Behörden getroffenen Vereinbarungen. Stadterneuerungsprojekte würden Ausdauer und Geduld von beiden Seiten erfordern. „Historische Orte sollten erhalten bleiben und die Projekte müssten ausgeführt werden, ohne die Rechte der Menschen zu verletzen“, erklärte Kahraman.