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Kolumnen

Auf den Arabischen Frühling folgt der Türkische Winter

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Tragen Sie einen Bart? Mögen Sie schwarze Handschuhe? Haben Sie abgenommen und füllen Ihren Mantel nicht mehr aus?

Wenn Sie denken, „Das alles fällt in meine Privatsphäre, ich rasiere und kleide mich wie ich will“, dann haben sie recht.

Wenn Sie aber denken, „Das geht niemanden an. Ich betrachte dies alles als meine Privatangelegenheit“, dann haben sie im Prinzip auch recht. Zumindest in Deutschland. In der Türkei wird das wohl in Zukunft etwas anders aussehen.

Der Grund: Die AKP-Regierung hat ein neues Gesetzespaket auf den Weg gebracht. Wenn sie das macht, dann bedeutet dies, dass daraus zu einhundert Prozent Gesetz wird.

Parteianweisung wichtiger als das Gewissen

Aus zweifachem Grund nämlich:

Zum einen hat sie eine bequeme Mehrheit. Sie kann schalten und walten wie sie will. Zum anderen winken AKP-Abgeordnete alles durch, was von oben kommt. Nach Praxis zu urteilen sieht es nämlich so aus, dass sie einzig und allein den Weisungen ihres Vorsitzenden und der damit verbundenen Privilegien und Annehmlichkeiten gebunden sind – nicht ihrem Gewissen.

Theoretisch könnten sie auch einem so absurden Gesetzesentwurf Gesetzeskraft verleihen, in dem Kamele benachteiligt und Ochsen bevorzugt würden. Alle Kamele des Landes verwiesen würden, weil sie der Türkei in gewissen Landesteilen ein nahöstliches Gepräge geben und Ochsen in ihrer ruhigen Art eine gewisse Würde und Autorität ausstrahlen.

Nichts könnte es verhindern!

Wenn wir also über den weiteren Werdegang des Gesetzespakets keine Zweifel hegen, stellt sich die Frage, was da drin steht. Unter anderem folgendes: Den Richtern sogenannter Friedensgerichte wird die Befugnis zuerkannt, landesweite Razzien durchzuführen. Personen können durchsucht, ihr Hab und Gut beschlagnahmt werden.

Dabei haben weder diese Personen noch ihre Anwälte die Möglichkeit, Akteneinsicht zu bekommen. Für das alles reicht schon ein „angemessener Verdacht“ aus. Wenn Sie fragen, „Was ist ein angemessener Verdacht, öffnet das Missbrauch nicht Tür und Tor?“, dann haben sie recht. Viele andere fragen sich das auch.

Die Frage ist berechtigt, aber eine zufriedenstellende Antwort darauf gibt es nicht. Wenn in einem Land handfeste Beweise, beschlagnahmte Geldbeträge, Geldzählmaschinen, gesetzlich abgehörte Telefonate gegen Personen im Umkreis hoher Machthaber als nicht vorhanden gelten und die Ermittlungen eingestellt werden, dann darf durchaus mit Berechtigung angenommen werden, dass solche schwammigen Begriffe gegenüber der gesellschaftlichen und politischen Opposition als Druckmittel missbraucht werden könnten.

Deutsche in der Türkei eignen sich für die Rolle von Spionen

Um auf die eingangs gestellten, die Privatsphäre betreffenden Fragen zurückzukommen: Als Bartträger könnten Sie als potentieller Terrorist, als schwarzer Handschuhträger als potentieller Dieb und als jemand mit etwas zu groß geratenem Mantel als Selbstmordattentäter ins Visier geraten.

Als deutscher Journalist und Stiftungsmitarbeiter eignen Sie sich in der Türkei für die Rolle eines Spions. Es wird sich schon irgendjemand finden lassen, der für sie einen „angemessenen Verdacht“ ausmacht.

Und dann haben Sie den Salat!

Ohne Frage: Die Türkei entfernt sich Schritt für Schritt von der EU und seinen Standards. Auch diese Gesetze bedeuten Beschneidungen wichtiger Grundrechte der Bürger. In Zukunft könnten zivilgesellschaftliche Kreise mit Repressionen und wirtschaftliche Kreise mit der Beschlagnahmung ihrer Vermögen eingeschüchtert werden.

Möglicherweise werden diese Gesetze durch das Verfassungsgericht für unwirksam erklärt. Trotzdem: Was bis dahin passieren kann und überhaupt die Richtung der Politik gibt einem zu denken.

Deshalb: Für mich bewegt sich die Türkei geradewegs in einen „türkischen Winter“. Als es ab Ende 2010 eine Rebellion der arabischen Völker gegenüber ihren korrupten und diktatorischen Machthabern gab, hieß dieses Aufbegehren ja auch „Arabischer Frühling“.

Eine Hoffnung aber bleibt: Während auf die Jahreszeiten der Natur im Nahen Osten Verlass ist, so unvorhersehbar sind politische und gesellschaftliche Entwicklungen in der Region. Was als Arabischer Frühling bezeichnet wurde, entpuppte sich am Ende als Arabische Eiszeit.

In Ägypten löste eine Diktatur die andere ab – mit einem kurzen Zwischenspiel, wo sich die Wahlsieger und -verlierer nicht als Demokraten entpuppten. In Syrien dauert die Tragödie an.

Wie lange die Politik funktioniert, in der potentielle Unruhestifter gekauft oder eingeschüchtert werden, wird man sehen. Dass eine Jahreszeit nicht ewig dauert, auch wenn einem das so vorkommt, ist gewiss.