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Politik

Warum mischt sich Europa in die türkische Innenpolitik ein?

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Der Politikwissenschaftler Dr. Savaş Genç analysiert in seiner aktuellen Kolumne für die Wochenzeitschrift Aksiyon, warum die inneren Konflikte der Türkei Auswirkungen auf die europäischen Länder hat.

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MEINUNGSBEITRAG Waren Sie jemals ein Flüchtling? Eine Existenz in einem neuen Land aufzubauen ist mit vielen Herausforderungen verbunden. Ganz egal aus welcher gesellschaftlichen Schicht man kommt, beginnt man das Leben in einem neuen Land, dessen Sprache Sie nicht sprechen, als ein Mensch zweiter Klasse. Viele der Menschen, die aus lebensgefährlichen Gebieten fliehen, verlassen Freunde und Familie und starten ein neues Leben voller Sorgen, aber auch voller Hoffnung.

Mit dem Anstieg des Wohlstandes und der Sicherheit in Europa wurden insbesondere westeuropäische Länder das Ziel für Asylbedürftige und solche, die vorgaben dies zu sein. So haben in den 1990ern viele Kurden aus der Türkei mit der Begründung, dass in der Türkei Gefangene gefoltert werden, Asyl in Europa beantragt. Ein signifikanter Teil dieser Menschen wurde in der Türkei auch wirklich politisch verfolgt. Jedoch befanden sich darunter auch viele, die den europäischen Behörden frei erfundene Bedrohungsszenarien auftischten, um in Europa leben zu dürfen. Eines der größten Probleme europäischer Staaten ist es, dass ihnen die Integration der Einwanderer, auf die sie allein wegen der demographischen Entwicklung eigentlich angewiesen sind, nicht gelingen mag. Der erste Punkt, auf den sich EU-Mitgliedsstaaten in dem sonst holprigen Entstehungsprozess ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einigen konnten, ist der Kampf gegen unkontrollierte Einwanderung in die EU.

„Wir sind gegen den EU-Beitritt der Türkei, weil…“

Um den Ernst der Sache zu verdeutlichen, sollte man sich vielleicht die Parteipräferenzen der Wählerinnen und Wähler anschauen. Bei der Wahlentscheidung orientiert sich der durchschnittliche Wähler in Europa zunächst an der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Parteien und unmittelbar danach an ihren Positionen in der Frage der Migration und Integration. Die Tatsache, dass die Beitrittsfrage der Türkei in die EU in vielen Ländern ein oft wiederkehrendes Wahlkampfthema war, kann auch aus dieser Perspektive erklärt werden. Um nicht mit rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien in einem Topf zu landen, aber dennoch das Lied der Migration und Überfremdung spielen zu können, haben sich viele Mitte-rechts-Parteien auf das Konterkarieren der EU-Integration der Türkei fokussiert, anstatt Menschen mit Migrationshintergrund offen zu diskriminieren.

In einer Fernsehdebatte im ZDF 2005, an der ich teilgenommen hatte, sagte ein CDU-Politiker „Wir sind gegen den EU-Beitritt der Türkei, weil wir nicht wollen, dass der im Chaos versinkende Irak mit hunderttausenden potentiellen Flüchtlingen unmittelbar an die EU grenzt.“ Ich bin der Meinung, dass dieses kleine Geständnis ein wichtiger Hinweis darauf ist, wie diese Wähler und ihre Repräsentanten in den Parlamenten Einwanderung wahrnehmen.

Flüchtlingspolitik der Türkei genießt international Anerkennung 

Die Türkei hat, obwohl ihre anfängliche „rote Linie“ bei 100.000 Flüchtlingen lag, mittlerweile die 25-fache Anzahl an Syrern aufgenommen. Diese Haltung der Türkei hat viele meiner Gäste aus der EU – Politiker wie Akademiker – positiv überrascht und für Anerkennung gesorgt. Viele haben jedoch auch angemerkt, dass das Fehlen von Strukturen und Kontrollmechanismen in der Migrations- und Integrationspolitik der Türkei „verrückt“ sei. So sehr sich die Türkei in der Anzahl der aufgenommen Flüchtlinge von den europäischen Staaten abhebt, genauso sehr ist auch der Kontroll- und Integrationsprozess der Neuankömmlinge von europäischen Standards entfernt (die ihrerseits ebenfalls ausbaufähig sind).

Westliche Staaten sind lange teilnahmslos geblieben, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien oder anderen Staaten ging. Ich kann mich erinnern, dass zu der Zeit, als die Türkei bereits über eine Million Syrer aufgenommen hatte, eine österreichische Zeitung titelte „Die ersten syrischen Flüchtlinge kommen an“ – es waren weniger als 100!

Als Fotos von ertrunkenen Kleinkindern die westlichen Medien überschütteten, für die der Tod von aberhunderten Flüchtlingen im Mittelmeer bis dato meist nur eine Agenturmeldung wert war, wurden plötzlich Tür und Tor geöffnet bzw. überrannt. Im vergangenen Sommer strömten täglich tausende syrische Flüchtlinge mal zu Fuß und mal mit Transportmitteln bis tief in Europa hinein. Mittlerweile hat der syrische Bürgerkrieg unmittelbare und spürbare Auswirkungen auf Europa. Knapp 200.000 syrische Flüchtlinge haben bislang einen Asylantrag in Europa gestellt. Flüchtlingsströme verfolgen ein bekanntes Schema: Der Großteil der in Ost- oder Südeuropa ankommenden Menschen zieht dorthin weiter, wo sie entweder bereits Bekannte und Familienangehörige haben oder wo die wirtschaftliche Lage vielversprechend ist – Schweden, Deutschland, Großbritannien oder Frankreich.

Auswirkungen von Konflikten und Instabilität in der Türkei auf die EU

Um dem vorzubeugen, hat EU Kommissionspräsident Juncker kürzlich einen Verteilungsschlüssel vorgestellt. Flüchtlinge sollen je nach Kapazitäten in alle EU-Länder verteilt werden. Mitgliedsstaaten, die weniger Flüchtlinge aufnehmen, als ihnen zugeteilt wurde, sollen pro weniger aufgenommenen Flüchtling 6.000 Euro in einen gemeinsamen Pool einzahlen, der wiederum an die übrigen Staaten verteilt wird. Noch wurde dieser Plan nicht verabschiedet und noch klaffen Realität und Plan weit auseinander. Während die Anzahl der Staaten, die das Schengener Abkommen zeitweise aussetzen wollen, ansteigt, werden über resistentere Sicherheitsvorkehrungen an den EU-Außengrenzen diskutiert. Die europäischen Staaten ringen mit der Herausforderung der Flüchtlinge, mühen sich ab und werden der Lage dennoch nicht Herr.

Betrachten Sie einmal die Fragen „Warum soll die EU denn Wohlstand und Stabilität für die Türkei wollen?“, „Wieso mischt sich die EU in die türkische Innenpolitik ein?“ von dieser Perspektive! Konflikte, Unruhen und Instabilität innerhalb der Türkei bedeuten im Umkehrschluss mehr Flüchtlinge und mehr Lasten für die EU. Präventive Ursachenbekämpfung bedeutet eben das Sicherstellen rechtstaatlich-demokratischer Prinzipien in anderen Ländern, fernab von autokratischer Willkür. Dafür zu sorgen, dass es den Menschen in ihren eigenen Ländern so gut geht, dass sie gar nicht erst scharenweise den Fluchtweg nach Europa antreten (müssen).