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„Als Schüler war Mesut Özil bestimmt kein Ausnahmetalent“

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Wie der Gelsenkirchener Schulleiter Georg Altenkamp das Talent von Özil entdeckte und mit dem Schulfach Fußball Integration betreibt. Manuel Neuer gehört als ehemaliger Absolvent heute zu den Hauptsponsoren seiner früheren Schule. (Fotos: H. Topel)

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„Als Schüler war Mesut Özil bestimmt kein Ausnahmetalent“
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Georg Altenkamp ist seit 21 Jahren Schulleiter an der Gelsenkirchener Gesamtschule Berger Feld. Der 65-jährige Pädagoge, der sich heute noch einen „Straßenfußballer“ nennt, suchte frühzeitig die Kooperation mit dem benachbarten Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04 und nahm talentierte Nachwuchskicker des Revierclubs in seine Schule auf. Seitdem steht das Fach Fußball am Berger Feld, eine der ältesten Gesamtschulen in NRW, bei vielen der 1400 Schüler auf dem Stundenplan.

Der Migrantenanteil an der Schule liegt derzeit bei etwa 40 Prozent. Die Schule gilt als Entdecker des Weltfußballers Mesut Özil (Foto, 2. v. u. li.) und winkt auf seinen PR-Flyern mit „Profivertrag & Abitur“. Der Deutsche Fußballbund (DFB) ernannte die Kicker-Kaderschmiede im Schatten der Schalke-Arena zur „Eliteschule des Fußballs“.

Georg Altenkamp stand dem DTJ für ein Interview zur Verfügung.

Herr Altenkamp, Schulen mit einem hohen Migrantenanteil werden in Deutschland immer noch misstrauisch beäugt. Die Gesamtschule Berger Feld aber stellt mit ihrem ehemaligen Schüler Mesut Özil ein typisches Zuwandererkind in ihr Schaufenster. Gleich beim Betreten der Schule stoßen wir auf Özils früheren Spielerpass für die Schulmannschaft, der dort in einer Vitrine ausgestellt ist. Inwieweit fühlen sich ihre Schüler von solchen Biografien und Karrieren angezogen?

Mesut hat eine sehr hohe gesellschaftliche Anerkennung neben einigen anderen Fußballprofis, die aus unserer Schule kommen. Da wir als Schule neben dem Verein einen maßgeblichen Teil zur Persönlichkeitsbildung dieser Leistungssportler beigetragen haben, pflegen wir sie als Vorbilder für künftige Schülergenerationen.

Was war der heutige Weltfußballer Özil damals für ein Schüler?

Ein ganz normaler Schüler. Der hatte seine Schwächen und seine Stärken. Außerdem wurde Mesut seinerzeit fußballerisch gar nicht als Ausnahmetalent gesehen.

Wieso nicht?

Ja, den haben wir über unsere Schule quasi Schalke angedient, weil unsere Sportlehrer sein ungewöhnliches technisches Potenzial erkannt hatten. Talente entwickeln sich ja. Da muss man als Trainer was dran tun, da muss man als Lehrer was dran tun. Wenn diese beiden Schienen dann optimal zusammenkommen und die Jugendlichen die Anlagen und den Willen mitbringen, dann können sich daraus Spitzensportler entwickeln.

Versteht sich Ihre Schule als Kaderschmiede für Spitzenfußballer?

Wir wollen hier nicht nur Nationalspieler wie Mesut Özil oder Manuel Neuer formen, sondern auch durchschnittliche Fußball-Talente für die Regionalliga fördern. Dabei bleiben wir auf dem Boden und wollen die Breite wie die Spitze entwickeln. Unser Konzept ist es, diejenigen aus der Breite in die Spitze zu führen, die die Anlagen mitbringen. Aber am Ende setzt sich nicht nur überdurchschnittliches Talent durch, da spielen auch viele Zufälle des Lebens eine Rolle.

Wie hoch ist der Migrantenanteil an Ihrer Schule?

Gegenwärtig liegt er bei 40 Prozent, in der Spitze hatten wir aber 65 Prozent. Das lag aber daran, dass andere Schulen in Gelsenkirchen ihre Aufgabe der Integration nur unzureichend wahrgenommen haben. Da gab es dann den Alibi-Migranten an irgendeinem Gymnasium oder an einer Realschule. Aber wir haben hier wichtige Veränderungen in der Stadt geschafft. Andere Schulen haben jetzt ähnliche Quoten von 35 bis 40 Prozent. Mit einem Migrantenanteil von 80 bis 90 Prozent kann man nicht mehr integrieren. Das geht nicht und ist gesellschaftlich nicht zu verantworten.

In der Vergangenheit haben Sie bei der Aufnahme von deutschen Schülern besonders gute Leistungen und Grundschulzeugnisse verlangt, um das Niveau an ihrer Schule zu heben.

Das ist richtig. Gottseidank haben wir durch das Fußball- und Sportprofil unserer Schule zu viele Anmeldungen und können am Ende auswählen, weil wir pro Schuljahr etwa hundert angemeldete Schüler wieder abweisen müssen. Durch unser Auswahlverfahren bekommen wir eine hohe Heterogenität und eine gesunde Mischung hin, die auch pädagogisch noch zu handlen ist.

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Wie viele Ihrer Schüler haben denn Fußball auf dem Stundenplan stehen?

Das sind gegenwärtig etwa 60 bis 70 Schüler, die Fußball als Leistungssport betreiben. Weitere 30 Schüler fördern wir als Spitzensportler in Disziplinen wie Schwimmen, Rudern, Basketball, Handball, Judo – und sogar beim Tanzen und Golfen.

Der Deutsche Fußballbund hat ihrer Schule den Titel „Eliteschule des Fußballs“ verliehen. Funktioniert Fußball als Mittel zur Integration?

Generell sind alle Sportarten Integrationsmittel. Aufgrund des hohen gesellschaftlichen Stellenwerts von Fußball, insbesondere hier in Gelsenkirchen durch die Nähe zu Schalke 04, hat diese Sportart natürlich schon eine gesellschaftliche Dominanz für die Bevölkerung hier, aber auch für unsere Kids an der Schule.

Sicherlich aber gibt es an Ihrer Schule nicht nur heile Welt, sondern auch die klassischen Alltagskonflikte der Integration.

Erziehungs- und Ausbildungsarbeit ist unser Job. Dabei sind wir auch als Eliteschule des Fußballs nicht abgehoben. Zu der heilen Welt gehört auch, dass man junge Leute in ihren Persönlichkeiten und unterschiedlichen Entwicklungsstadien ernst nimmt, aber auch an den Stellen, wo es notwendig ist, gemeinsam mit den Eltern Erziehungsarbeit leistet.

Haben sich die klassischen Integrationskonflikte im Laufe der Jahre verändert?

Durch das gesunde Zahlenverhältnis mit einem Migrantenanteil von 35 bis 40 Prozent kommen wir sehr gut klar. Auf dem Hintergrund unserer jahrzehntelangen Erfahrungen mit viel höheren Quoten haben wir ein Repertoire entwickelt, das es uns ermöglicht, dafür zu sorgen, dass uns die Integration der Schüler hier ganz gut gelingt. Wir kommen aber auch deshalb so gut damit klar, weil wir inzwischen sehr viele Lehrer mit Migrationshintergrund an dieser Schule haben. Das sind ja Identitätsträger für die Schüler mit Zuwanderungsgeschichte. 20 Prozent unserer Lehrer sind Migranten. Das ist landesweit die höchste Quote an einer Schule. Eine meiner großen Leidenschaften. Ich habe selbst an der Uni Duisburg/Essen bei der Ausbildung türkischer Lehrer in der Fachdidaktik mitgearbeitet und mir dann die besten Leute an unsere Schule geholt.

Auf den PR-Flyern Ihrer Schule werben Sie mit „Profivertrag & Abitur“. Spielen Sie da nicht mit den Träumen und Illusionen junger Menschen?

Die Träume und Illusionen sind ja da. Wir gehen mit dem Dualismus Fußballsport und schulische Karriere schon sehr verantwortlich um. Da haben wir für den DFB Benchmarks entwickelt, die inzwischen bundesweit für alle Eliteschulen des Fußballs und Nachwuchsleistungszentren verbindlich sind. Die Kids, die hierher kommen, müssen den Ansprüchen eines Schulsystems mit wöchentlich fünf Stunden Sport in der Woche gerecht werden und gleichzeitig noch ihr tägliches Vormittagstraining im Fußball oder anderen Leistungsportarten absolvieren. Wir haben die Förderung im Fußball an unserer Schule längst auf Schwimmen, Rudern, Handball, Basketball und Judo übertragen, um den Schülern auch in diesen Sportarten Karrieremöglichkeiten zu entwickeln.

In Ihren Klassen sitzen angehende Fußballmillionäre neben Schülern aus Hartz-IV-Familien. Führt das nicht unweigerlich zu sozialen Konflikten und Friktionen?

Auch dies ist nur ein Abbild der real existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse, wenn hier ein Julian Draxler in der elften Klasse sitzt und seine dicke Kohle verdient,
wie man im Ruhrgebiet sagt, und daneben sitzt jemand, der zu Hause kaum über die Runden kommt. In diesem Falle müssen beide Schüler lernen, damit umzugehen. Für den Profifußballer ist es wichtig, sich nicht arrogant zu präsentieren und überheblich zu wirken, sondern mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben. Für die anderen Schüler ist es wichtig, einen Julian Draxler als jemanden zu erleben, der sich nicht als Star präsentiert, sondern als ganz normaler Mensch.

Der prominente Klassenkamerad als Idol und Vorbild?

Für diejenigen, die sich als Underdogs fühlen, ist es wichtig, menschliche Qualitäten an diesen Leistungssportlern zu entdecken, die nicht zur Verklärung führen, sondern zum Nacheifern. Und wenn jemand Leistung bringt, dann kann er auch Geld verdienen. Dass dies in dieser Gesellschaft so ist, daran werden wir nichts ändern. Die Illusion, die Gesellschaft durch Pädagogik verändern zu wollen, habe ich mir als alter 68er abgeschminkt. Wir müssen die Verhältnisse akzeptieren und wir müssen sie transparent und erträglich machen. Und dann kann jeder Einzelne urteilen: Der ist ein lackierter Affe und der andere ist ein tofter Kumpel.

An ihrer Schule übernehmen Schüler Patenschaften für Profifußballer?

Schalke-Spieler wie Julian Draxler oder Joel Matip werden von anderen Schülern unterstützt, wenn sie in Trainingslagern oder in Wettkämpfen sind. Schulkameraden aus ihren Kursen halten mit ihnen Verbindung und geben ihnen Informationen, was im Unterricht läuft. Damit wird sichergestellt, dass die Fußballer auch außerhalb der Schule weiter am Lernstoff arbeiten können. Dadurch entstehen menschliche Qualitäten in der gegenseitigen Wahrnehmung. Ohne den Paten könnte der Fußballprofi hier seinen Abschluss gar nicht machen. Die Sportler spüren, dass sie sich nicht nur aus sich selbst heraus zum Talent entwickeln. An dieser Schule sind sie Teil eines sozialen Netzwerks, das sie trägt und stützt.

Was machen Sie mit Schalke-Fußballern, die auf dem Schulhof ihren Starkult ausleben?

Sobald einer abhebt, finden Gespräche statt. Wenn die Mädchen denen hinterherlaufen, dann schreiten wir ein. Schüler, die hier nur noch in Schalke-Klamotten rumlaufen, werden klipp und klar angewiesen, sich umzuziehen. Die brauchen hier nicht die Ausgehuniform ihres Vereins zu tragen.

Auf dem Schulhof ist Schalke tabu?

Das ist tabu. Dieser Rollenwechsel ist ganz wichtig. Was auf dem benachbarten Schalke-Gelände stattfindet, ist trainingsbedingt. Aber hier in der Schule ist wichtig: Bodenhaftung, auf dem Teppich bleiben und vor allem den sozialen Kontext nutzen zwischen den Underdogs und Eliten. Das ist Integrationsarbeit. Alles andere ist Starkult, den wir konsequent ablehnen.

Gleichzeitig sind Sie aber megastolz auf ehemalige Schüler wie Mesut Özil oder Manuel Neuer.

Na klar. Was meinen Sie, was hier bei den Schülern in den fünften und sechsten Klassen für eine Begeisterung herrscht, wenn Mesut oder Manuel ihre ehemalige Schule besuchen?!

Die schauen immer noch mal vorbei in ihrer alten Schule?

Natürlich kommen die vorbei. Wir pflegen diese Kontakte und genießen sie auch. Da ist natürlich auch ein Stück Stolz in der Brust. Wir kriegen ja von denen als Schule auch einiges zurück. Manuel finanziert hier Förder- und Nachhilfeunterricht, damit Schüler aus der Klasse zehn den Sprung in die Oberstufe schaffen. Für die Klassen fünf und sechs gibt es täglich ein gesundes Frühstück, das ebenfalls von Manuel gesponsert wird. Er macht dies, weil er sich elementar menschlich verpflichtet fühlt und uns etwas zurückgeben möchte. Wenn ich Mesut anrufe und sage ihm, ich brauche bestimmte Dinge für die Schule, dann hilft er uns auch.

Können Sie bei einem ihrer jetzigen Schüler ein ähnliches Talent wie seinerzeit bei Mesut Özil entdecken?

Durchaus. Wenn ich sehe, welche Wahrnehmungskompetenzen manche unserer Kiddies auf dem Fußballplatz haben, dann sage ich: Boah, aus dem könnte auch was werden! Das Geheimnis bei dem Talent von Mesut Özil war seine frühe Wahrnehmungskompetenz, das einzigartige Auge für seine Mitspieler.