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Nur Deutsche, wenn sie gewinnen?

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Şahin und Özil im Spiel Arsenal - Dortmund - (dpa)
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Vor einem Jahr verabschiedete sich Mesut Özil mit massiven Vorwürfen an den DFB aus der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Die Befürchtung damals: Das wird der Integrationskraft des Fußballs massiv schaden. Ein Jahr später ist die Frage: Ist das wirklich so?

Von Sebastian Stiekel und John Hennig, dpa

Im Schatten des FC Bayern dreht seit ein paar Monaten noch ein anderer Münchner Verein ein großes Rad. Zweimal nacheinander ist Türkgücü München von der Landes- in die Regionalliga aufgestiegen. Mit lauter namhaften Verstärkungen soll es in Zukunft noch bis in die 2. Fußball-Bundesliga hochgehen. In diesem Sommer holte Türkgücü unter anderen den ehemaligen Zweitliga-Trainer Rainer Maurer sowie die früheren Zweitliga-Spieler Karl-Heinz Lappe und Mario Erb. Für einen Verein, dessen Name wörtlich übersetzt «Türkische Macht» bedeutet, spielen jetzt insgesamt 17 Spieler, die Karl-Heinz, Mario, Benedikt oder Patrick heißen.

Natürlich ist die Geschichte von Türkgücü München in erster Linie eine Geschichte über hohe sportliche Ziele. «Entscheidend ist für uns die Qualität und die Mentalität der Spieler. Nicht die Herkunft», sagt der Geschäftsführer Robert Hettich der Deutschen Presse-Agentur. Trotzdem leistet Türkgücü aktuell auch einen ziemlich spektakulären Beitrag zu einer Debatte, die der Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Nationalmannschaft vor genau einem Jahr ausgelöst hatte. Es geht um die Frage: Wie groß ist die Integrationskraft des Fußballs?

«In den Augen von Grindel und seinen Helfern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Migrant, wenn wir verlieren», schrieb der Profi des FC Arsenal am 22. Juli 2018. Özil hatte in den Wochen zuvor auf einem Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan posiert und war in Deutschland rassistisch angefeindet worden. Es waren aber vor allem das Ende seiner Nationalmannschafts-Karriere und die Vorwürfe gegen den damaligen DFB-Präsidenten Reinhard Grindel, die Mehmet Matur vor einem Jahr als «Schock für meine Integrationsarbeit» wahrnahm. Matur ist der Integrationsbeauftragte des Berliner Fußball-Verbandes und beim Verein Türkiyemspor aktiv. Er weiß genau: Mesut Özil war als deutscher Weltmeister mit türkischen Wurzeln die perfekte «Identifikationsfigur» für dieses Thema.

Ein Jahr danach ist die Deutsche Presse-Agentur der Frage nachgegangen, ob der «Fall Özil» an der Basis tatsächlich so gravierende Folgen hatte, wie das im Sommer 2018 befürchtet wurde. Die dpa hat sich bei Vereinen wie Türkgücü München und Türkiyemspor Berlin umgehört, an Özils früherer Schule in Gelsenkirchen und auch bei Jugendtrainern und Funktionären des Deutschen Fußball-Bunds.

Alle sagen im Kern das gleiche wie Robert Hettich: «Wir haben bei uns keine Auswirkungen gespürt.» Über Fußball und Integration wird aber trotzdem weiter diskutiert. So versucht der DFB, mehr Menschen mit Migrationshintergrund für die Vereinsarbeit zu gewinnen. So fordert Mehmet Matur, «Herkunft, Kultur und Nationalität nicht mehr ständig zu betonen». Und dann gibt es Experten, die gerade Türkgücü für eine starke Antwort auf den Fall Özil halten. Immer mehr «Deutsche», die zu einem «türkischen» Club gehen? «Das ist das beste Beispiel für Integration, das man sich vorstellen kann», sagt der für Sozial- und Gesellschaftspolitik zuständige DFB-Vizepräsident Eugen Gehlenborg.

Dem Deutschen Fußball-Bund liegen zum Thema Integration diese Statistiken vor: Rund 20 Prozent der aktiven Fußballer haben einen Migrationshintergrund – das entspricht etwa dem Bevölkerungsschnitt. Bei den Junioren-Nationalspielern sind es etwas mehr als 30 Prozent – das liegt schon deutlich über dem Schnitt. Nur bei den Ehrenamtlichen in den Vereinen liegt der Anteil bei etwa acht Prozent. Damit ist er immer noch höher als in anderen Sportarten wie dem Handball – aber auffällig gering im Vergleich zu den aktiven Spielern oder Trainern.

Die gute Nachricht für den DFB ist: «Die Mehrheit türkischstämmiger Jugendspieler hat sich schon immer für die deutschen Nationalteams entschieden. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich daran durch den Fall Özil etwas geändert hat», sagt Gehlenborg.

Nur bei der Anzahl Ehrenamtlicher mit einem Migrationshintergrund – «da müssen wir besser werden», hatte der von Özil so attackierte Reinhard Grindel vor seinem Rücktritt als DFB-Präsident gefordert. Grindel brachte im November ein «Leadership-Programm» ins Gespräch. Auf diesem Weg hatte der DFB 2016 schon einmal versucht, mehr Frauen im Fußball in Vorstandsposten zu bekommen. Ob sich das auch auf den Bereich Integration übertragen lässt, wird beim DFB noch diskutiert.

An Özils früherer Schule wurde bereits vor Jahren die Stelle eines Sportmentors geschaffen. Thomas Kaiser dient an der Gesamtschule Berger Feld jenen Schülern als Vertrauensperson, die vor allem beim FC Schalke 04 in der Jugend spielen und genau wie ihre Vorgänger Manuel Neuer, Leroy Sané und Özil einmal Fußballprofis werden wollen.

Kaiser erzählt vom Beispiel Ahmet Kutucu, «der gerade sein Abitur bei uns bestanden hat und gleichzeitig Profi bei Schalke 04 geworden ist». Der habe den gleichen Lebensweg wie ein Mesut Özil, beide Väter stammen sogar aus demselben Kohleabbau-Gebiet in der Türkei.

Welchen Einfluss der Fall Özil auf den 19-jährigen Kutucu gehabt habe? «Keinen. Das hat ihn nicht berührt», erklärt Kaiser. «Der Fokus dieser Jungs ist: Ich will Fußballprofi werden. Dafür tue ich alles – und eine ganze Menge wiederum auch nicht: Ich klemme mir meine Jugend ab und ich nehme quasi kaum am gesellschaftlichen Leben teil.»

Was der Sportmentor damit sagen will: Faktoren wie Nationalität und Herkunft werden seiner Meinung nach in vielen Debatten überschätzt. «Auf dem Platz ist keiner Türke, Russe oder Deutscher. Da ist er Sechser, Stürmer oder Torwart», sagt Kaiser. «Auch die Vorbilder sind nicht automatisch Türken, Russen oder Deutsche. Sondern Neymar, Messi oder Ronaldo. Die können so viel Scheiße bauen, wie sie wollen.»

Ulrich Busse sieht das genauso. Er ist seit 1989 Fußball-Trainer, hat im Landkreis Celle zwölf Jahre lang kurdische Clubs wie den SV Dicle und Firat Bergen trainiert und ist seit 13 Jahren Stützpunkttrainer des DFB im Nachwuchsbereich. Er sagt, «dass die meisten türkisch- oder kurdischstämmigen Jugendlichen ihre Wurzeln kennen, sich aber als Deutsche fühlen.» Und das heißt: «Wenn es jemand wie Mesut Özil in die deutsche Nationalelf schafft, dann ist er ein Impulsgeber.» Aber auch jemand, der die Haltung zu Deutschland oder zum türkischen Präsidenten entscheidend prägen kann? «Das glaube ich nicht.»

Busse stört sich vielmehr an Fotos, die hunderte von Fußballern deutlich regelmäßiger im Internet posten. «Wenn sich Fußballer ständig öffentlich mit Glanz und Glamour, mit Bling und Blang, mit teuren Autos und mit dickem Klunker darstellen: Dann hat das einen Einfluss darauf, wie sich das Sozialverhalten junger Spieler entwickelt», sagt er. «Es erweckt den Eindruck: Fußball und Statussymbol gehören zusammen. Diesen Glamour will ich auch.»

Türkgücü München hat derweil am Samstag auch sein zweites Spiel in der Regionalliga gewonnen: 3:1 gegen Viktoria Aschaffenburg, der Aufsteiger ist schon wieder Tabellenführer. Türkgücü hat zuletzt aber nicht nur seinen Kader, sondern auch sein Logo verändert. Das besteht jetzt je zur Hälfte aus der türkischen und der bayerischen Fahne.