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Politik

Die Türkei aus dem Norden, Assad aus dem Süden: Was bedeutet das für die syrischen Kurden?

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Die Kurden in Nordsyrien sind nicht die einzigen Verlierer der türkischen Offensive. Der Konflikt birgt auch für Europa und den gesamten Nahen Osten fatale Risiken. Ein Kommentar.

„Keine Freunde außer den Bergen.“ Dieses Sprichwort wird dieser Tage im nordsyrischen Kurdengebiet Rojava häufig bemüht. Es steht sinnbildlich für ein Volk, das über die Jahrzehnte immer wieder enttäuscht, betrogen und hintergangen wurde. Für die syrische Kurdenpartei PYD, die von der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird, ist der Abzug der US-Truppen und die türkische Offensive nur eine weitere Etappe in einem fortwährenden Kampf um Anerkennung, wenn auch eine mehr als enttäuschende. 

Denn nun steht fest: Alle Bemühungen haben nichts gebracht. Und das, obwohl: 

  • Kämpfer der kurdischen YPG-Miliz bisher das Rückgrat der Syrischen Demokratischen Streitkräfte (engl.: Syrian Democratic Forces; SDF) bildeten;
  • kurdische Kämpfer mithilfe der USA die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) federführend bekämpften und Zehntausende ihrer Kämpfer zur Aufgabe zwangen;
  • der Nordosten Syriens unter syrisch-kurdischer Kontrolle zu einem Hort des relativen Friedens und der Freiheit im vom Bürgerkrieg zerrütteten Syrien geworden war.

Trotz dieses aufopferungsvollen Einsatzes – im Kampf gegen den IS starben mehr als 10.000 kurdische Kämpfer – stehen die syrischen Kurden nun wieder mit leeren Händen da. 

IS noch nicht besiegt

Der Verrat an ihnen ist für die Region ein Alarmsignal. Denn erstens ebneten die USA mit ihrer Entscheidung, der SDF die Unterstützung zu entziehen und der Türkei freie Hand zu lassen, den Einmarsch des türkischen Militärs. Zweitens wird die YPG nicht kampflos aufgeben. Ein langwieriger blutiger Konflikt ist so unvermeidbar – besonders, weil die türkische Armee mit den kampferprobten Guerillakämpfern der YPG einem kraftvollen Gegner gegenübersteht. 

Drittens könnten durch die Kämpfe und das daraus resultierende Chaos bis zu 10.000 ehemalige IS-Kämpfer und zehntausende IS-Anhänger, die bislang in kurdischen Lagern inhaftiert sind, freikommen. Dieses Szenario stellt nicht nur für den Nahen Osten, sondern auch für Europa und die ganze Welt eine ernsthafte Bedrohung dar, besonders weil in den Weiten Syriens weiterhin dschihadistische Kämpfer operieren. 

„Operation Olivenzweig“ als Vorbild?

Recep Tayyip Erdoğan versicherte zwar gegenüber den USA, sich um die inhaftierten IS-Kämpfer kümmern zu wollen, sollten sie sich in der geplanten Sicherheitszone an der türkischen Grenze befinden. Was sich wirklich im Chaos des Krieges abspielt, ist aber ebenso wenig absehbar wie die Bedrohung durch die Terroristen. Die Ankündigung des türkischen Präsidenten ist also keinesfalls eine Garantie.

Viertens wäre die Offensive des türkischen Militärs Gift für den inneren Frieden der Region. In der 2018 zynisch „Operation Olivenzweig“ titulierten Offensive in Afrin führten türkische Truppen nach ihrem militärischen Sieg Anfang 2019 eine ethnische Neuordnung in der Region durch. Mehr als 130.000 Kurden flüchteten vor den Soldaten und ihren dschihadistischen Verbündeten. Kurdische Häuser, Geschäfte und Jobs übernahmen syrische Araber.

Die wenigen Kurden, die in Afrin blieben, werden seither systematisch diskriminiert. Ähnliches ist für die geplante Schutzzone wahrscheinlich: Syrische Flüchtlinge, die bislang in der Türkei leben, sollen dort angesiedelt werden. Für die syrischen Kurden ist dort dann kein Platz mehr. Im Gegenteil. Erste Familien packen bereits ihr Hab und Gut auf Pickups und flüchteten aus der Region, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. 

Kurden rufen Damaskus zu Hilfe

Die YPG gibt sich indes kämpferisch. Mustafa Bali, Sprecher Rojavas, versicherte: „Wir verteidigen Nordostsyrien um jeden Preis.“ Um einem Leben unter türkischer Herrschaft zu entgehen, verhandeln sie parallel mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und Syriens Machthaber Baschar al-Assad. 

Aus Damaskus ziehen bereits erste Assad-treue Truppen gen Norden. Die Kurden hatten sie zu Hilfe gerufen. Für den syrischen Machthaber ist das eine Chance, weitere Teile des Landes zurück unter seine Kontrolle zu bringen. Auch dadurch gerät eine kurdische Unabhängigkeit in weite Ferne.

Das türkische Militär, dschihadistische Verbündete, Assad-Truppen, die YPG und mittendrin die kurdische Zivilibevölkerung: Die Situation vor Ort wird immer unübersichtlicher. Eines ist aber ganz klar: Die Welt, sie ist – auch für Europa – erheblich unsicherer geworden.