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Politik

„Die Bewaffneten bringen uns alle ohne Gnade um“

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Die Terrorgruppe Islamischer Staat ist am Sonntag in von Kurden bewohnte Gebiete eingefallen und hat einen wichtigen Staudamm eingenommen. Die ansässige Bevölkerung bricht in Panik aus, Hunderttausende fliehen. (Foto: dpa)

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Die Terrorgruppe Islamischer Staat ist am Sonntag in von Kurden bewohnte Gebiete eingefallen und hat einen wichtigen Staudamm eingenommen. Die ansässige Bevölkerung bricht in Panik aus, Hunderttausende fliehen.
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Einheiten der Terrororganisation IS (Islamischer Staat) – ehemals ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) – haben im Norden des Iraks eine erneute Offensive gestartet und mehrere kurdische Ortschaften und einen wichtigen Staudamm erobert. In den letzten Wochen konnte die irakische Armee zusammen mit schiitischen Freiwilligen-Verbänden im Süden des Landes zwar Gebietsgewinne gegen IS verzeichnen. Doch die Extremisten gingen am Wochenende im Norden des Landes abermals in die Offensive und vertrieben nach heftigen Kämpfen kurdische Peschmerga-Kämpfer aus großen Gebieten nördlich und westlich von Mossul.

Die Terrorgruppe übernahm die Herrschaft in den Städten Shingal und Samar sowie in mehreren weiteren Orten. Den größten Staudamm des Iraks, die Mossul-Talsperre, brachten sie nach einem Ultimatum an die Peschmerga kampflos unter Kontrolle, wie Quellen der kurdischen Einheiten berichteten. Zudem beherrscht die Terrorgruppe jetzt zwei weitere Ölfelder. Bei den Zusammenstößen starben allein bis Samstag mindestens 77 Menschen.

Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen rund 200 000 Menschen aus Angst vor der Schreckensherrschaft der Extremisten vor allem in das Shingal-Gebirge im Westen der Großstadt Mossul. Die meisten Flüchtlinge waren Mitglieder der religiösen Minderheit der Jesiden. In den betroffenen Gebieten brach Chaos aus. „Die Bewaffneten bringen uns alle ohne Gnade um“, sagte ein Bewohner der dpa.

Panik unter jesidischen Bewohnern: „Der IS ist hier!“

Die Lage der Flüchtlinge ist katastrophal. Das Shingal-Gebirge sei von IS-Militanten eingeschlossen. Die Kämpfer der IS sind besonders unter Angehörigen von religiösen Minderheiten für ihre Grausamkeit gefürchtet, da die Gruppe für zahlreiche Massenhinrichtungen und Enthauptung von Gefangenen verantwortlich gemacht wird. Teilweise verbreitete IS in selbst produzierten Videos Aufnahmen von ihren Gräultaten.

In Shingal entfalte sich eine „humanitäre Tragödie“, sagte der UN-Sonderbeauftragte für den Irak, Nikolaj Mladenov. Die Flüchtlinge bräuchten dringend Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente, so die UN.

Unter der Bevölkerung der betroffenen Region brach nach dem Rückzug der Peschmerga Panik aus. Die Lage ist bis zum Sonntag Abend auf Grund der schlechten Sicherheitslage unübersichtlich. Nur wenige Menschen aus Shingal waren zu erreichen. Diejenigen, mit denen telefonischer Kontakt aufgenommen werden konnte, berichteten, dass das Dorf Siba Shex Khidir im Distrikt Shingal (Provinz Niniwe) und weitere umliegende Ortschaften nach erbitterten Kämpfen zwischen einfachen Anwohnern und den vorrückenden IS-Extremisten erobert wurde. „Der IS ist hier!“, sagte ein Bewohner der Region, der aus Angst vor den Extremisten anonym bleiben wollte. Als Grund für die Übernahme der Ortschaft nannten Anwohner den Rückzug der kurdischen Peschmerga. Diese hätten die Verteidigung der Ortschaft 2000 jesidischen Männern überlassen, die jedoch nur leicht bewaffnet gewesen seien.

 Anführer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi. Die Gruppe wird für etliche grausame Verbrechen verantwortlich gemacht. (dpa)

Peschmerga überlassen Anwohnern die Verteidigung

Die schlecht ausgerüsteten Verteidiger konnten den Berichten zufolge der Übermacht der IS-Einheiten zwei bis drei Stunden Widerstand leisten. „Aber das ist eine lange Zeit, um unsere Kinder in Sicherheit zu bringen“,sagten uns Flüchtlinge, die sich in die Berge Shingals begaben. Die Extremisten hätten etliche Menschen gefangen genommen, berichteten Einwohner. „Ich habe gesehen, wie die Bewaffneten die Menschen festgenommen haben“, sagte ein 25 Jahre alter Jeside der dpa. „Ich mache mir Sorgen um sie und fürchte, dass sie liquidiert werden.“

Die irakisch-kurdischen Medien sendeten als Antwort auf den überraschenden Feldzug der Terrororganisation IS (Islamischer Staat) – ehemals ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) –  seit Mitte Juni heroischen Bilder kämpfender Peschmerga-Einheiten, die kurdische Ortschaften verteidigen. Doch seit den Ereignissen vom Wochenende werden keine Aufnahmen selbstbewusster kurdischer Kämpfer mehr gesendet. Zu offensichtlich ist, dass die Peschmerga von der IS-Offensive überrascht wurden. Lediglich kurze Berichte über die Kampfhandlungen wurden in den kurdischen Nachrichten verlesen.

Die offensichtlich von der IS-Offensive überraschten Peschmerga scheinen sich am Abend zwar wieder neu formiert und den Kampf gegen IS wieder aufgenommen zu haben. Inzwischen gab der Sprecher der Peschmerga, Helgurt Hikmet, bekannt, dass nun schwere Waffen, unter anderem Panzer und Panzerfahrzeuge, zur Verstärkung eingetroffen seien: „Die Peschmerga-Einheiten warten lediglich auf den Befehl Barzanis zum Angriff.“ Viele Gebiete sind jedoch schon unter der Kontroller des IS gefallen.

YPG-Kämpfer aus Syrien in den Irak unterwegs

Wegen des Rückzugs der kurdischen Peschmerga-Einheiten haben sich nun die als PKK nahe geltenden kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG aus Syrien in die umkämpften Gebiete aufgebrochen. Erste Einheiten haben Berichten kurdischer Medien zufolge bereits die syrische Grenze zum Irak in Richtung der jesidischen Stadt Shingal überquert. Die YPG und die ihr überstehende Partei „Partiya Yekitîya Demokrat“ (dt. „Partei der Demokratischen Union“, Kürzel PYD) betonten in der Vergangenheit, dass sie in ihrer Politik keinen Unterschied zwischen Muslimen und kurdischen Jesiden mache. Dies hat ihnen viele Sympathien in der jesidischen Bevölkerung eingebracht.

Die vom IS eingenommenen Dörfer haben bereits am 14. August 2007 – vor sieben Jahren – an trauriger Berühmtheit gewonnen: Zwei bis zum Rand mit Sprengstoff vollbepackte Tanklastwagen wurden in Siba Shex Khidir und Tel ‚Asir von der al-Qaida gezündet: Der folgenschwerste Anschlag im Irak mit rund 350 Toten. Die Botschaft damals: Keine Jesiden mehr im Irak. (dpa/dtj)