Politik
Schwerer Vorwurf: „Die Waffen in der Hand des IS stammen von Erdoğan“
Mehr als 200 000 Menschen sind bereits auf der Flucht vor dem Vormarsch des terroristischen IS (vorm. ISIS) im Norden des Irak. Mittlerweile erklären sich auch mehrere sunnitische Stammesführer bereit, Bagdad gegen den IS zu unterstützen.
Der Vorsitzende der größten türkischen Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, hat schwere Vorwürfe gegen die türkische Regierung und den Ministerpräsidenten erhoben.
„Die Waffen in der Hand der Terrorgruppe IS stammen von Erdoğan“, sagte der CHP-Chef am Samstag. 49 türkische Bürger seien weiter in der Hand der Terroristen, doch der Regierungschef tue nichts. Der „Islamische Staat“ hatte vor etwa zwei Monaten das türkische Generalkonsulat in Mossul gestürmt und dutzende türkische Staatsbürger als Geiseln genommen. „Er zeigt keine Regung, er übt keine Kritik“, zeigte Kılıçdaroğlu kein Verständnis für die Haltung Erdoğans. Beweise für seine Bewaffnungsthese legte der Oppositionspolitiker nicht vor.
Zuletzt kam ein Video in Umlauf, das angeblich IS-Terroristen bei Waffenübungen in Istanbul zeigen soll. Die Regierung kommentierte es bislang nicht. Auch hat sie die Gruppe bisher nicht als Terrororganisation eingestuft.
Jesiden auf der Flucht
Der weitere Vormarsch der Terrorgruppe Islamischer Staat im Norden des Iraks hat unterdessen eine panische Massenflucht ausgelöst. Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen rund 200 000 Menschen aus Angst vor der Schreckensherrschaft der Extremisten vor allem in das Sindschar-Gebirge im Westen der Großstadt Mossul. Die meisten Flüchtlinge waren Mitglieder der religiösen Minderheit der Jesiden. Es wird von Chaos und unvorstellbaren Gräueltaten der Terroristen berichtet. Wie das kurdische Nachrichtenportal „Rudaw“ auf seinen englischsprachigen Seiten darstellt, hätten die Extremisten zudem 100 jesidische Frauen in ihrer Gewalt.
Die Lage der Flüchtlinge sei katastrophal. In Sindschar entfalte sich eine „humanitäre Tragödie“, sagte der UN-Sonderbeauftragte für den Irak, Nikolaj Mladenov. Die Flüchtlinge bräuchten dringend Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente, so die UN. Das Sindschar-Gebirge sei von IS-Militanten eingeschlossen.
Die Extremisten hatten am Wochenende nach heftigen Kämpfen kurdische Peshmerga-Kämpfer aus großen Gebieten nördlich und westlich von Mossul vertrieben. Die Terrorgruppe übernahm die Herrschaft in den Städten Sindschar und Samar sowie in mehreren weiteren Orten. Den größten Staudamm des Iraks, die Mossul-Talsperre, brachten sie nach einem Ultimatum an die Peshmerga kampflos unter Kontrolle, wie Quellen der kurdischen Einheiten berichteten. Zudem beherrscht die Terrorgruppe jetzt zwei weitere Ölfelder.
Die Lufthansa-Gruppe verlängerte ein selbst auferlegtes Flugverbot im Luftraum über den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten. Die Regelung hatte zunächst nur für das Wochenende gegolten. Der Konzern erklärte bereits am Freitag, nach eigener Bewertung gegenwärtig keine Erkenntnisse für eine Gefährdung von Überflügen über den Irak zu haben. Aber: „Mit diesem Schritt trägt die Lufthansa Group der Verunsicherung von Kunden und auch der eigenen Besatzungen Rechnung.“ Nach „erneuter Beratung mit den zuständigen Sicherheitsbehörden“ sollen Flüge ins nordirakische Arbil – unter Meidung der Krisengebiete – von Montag an aber wieder aufgenommen werden.
Peshmerga wollen Sindschar zurückerobern
In den nun von IS-Kämpfern eroberten Städten und Orten wohnen mehrheitlich Kurden. Die Sindschar-Region ist ein Hauptansiedlungsgebiet der Jesiden. Die Gebiete gehören zwar nicht zur kurdischen Autonomieregion, standen aber zuletzt unter Kontrolle kurdischer Peshmerga-Kämpfer. Diese zogen sich nach heftigen Kämpfen mit den Extremisten aus der Region zurück. Bei den Zusammenstößen starben allein bis Samstag mindestens 77 Menschen.
Die Extremisten hätten etliche Menschen gefangen genommen, berichteten Einwohner. „Ich habe gesehen, wie die Bewaffneten die Menschen festgenommen haben“, sagte ein 25 Jahre alter Jeside der dpa. „Ich mache mir Sorgen um sie und fürchte, dass sie liquidiert werden.“
Die Flüchtlinge suchten auch in den benachbarten kurdischen Autonomiegebieten Schutz. Die Terrorgruppe betrachtet die Jesiden als „Ungläubige“. Irakische Medien meldeten, die sunnitischen Extremisten hätten zehn schiitische Kurden hingerichtet sowie schiitische und jesidische Schreine gesprengt.
Die kurdischen Peshmerga-Kämpfer schickten demnach Verstärkungen in das Gebiet, um Sindschar wieder zu befreien. Die Nachrichtenseite Shafaaq-News berichtete am Sonntag von neuen heftigen Kämpfen.
Die Terrorgruppe hatte Anfang Juni Mossul rund 400 Kilometer nördlich von Bagdad eingenommen. Sie beherrscht mittlerweile weite Gebiete im Norden und Westen des Landes. In den Regionen unter ihrer Kontrolle erlässt sie Gesetze nach einer sehr radikalen Interpretation des islamischen Rechts, der Scharia. Gegen Andersgläubige geht sie mit rücksichtsloser Gewalt vor. Fast sämtliche Christen sind wegen der Verfolgung aus Mossul geflohen, nachdem IS-Extremisten ihnen den Tod angedroht hatten, sollten sie nicht zum Islam konvertieren.
Auch in Syrien rücken die Extremisten an die Kurdengebiete heran
Ende der Woche war die Terrorgruppe auch im benachbarten Syrien näher an die mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiete herangerückt. Dort hatten die Extremisten einen Militärstützpunkt in der Nähe der Stadt Hasaka eingenommen.
Fast zwei Monate nach Beginn des Vormarsches der Extremisten im Irak hat sich in Mossul zuletzt jedoch auch sunnitischer Widerstand gegen die Terrorgruppe formatiert. Eine Gruppe mit dem Namen „Brigaden der Revolutionäre von Mossul“ tötete vor einigen Tagen mehrere IS-Kämpfer. Der Widerstand hatte sich gebildet, nachdem die sunnitischen Extremisten in den vergangenen Wochen mehrere bedeutende Moscheen und Grabmäler zerstört hatten.
Mittlerweile sollen sogar einige sunnitische Stammesführer ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der irakischen Regierung erklärt haben, nachdem die Terrorgruppe auch in den sunnitischen Regionen, die sie eingenommen hatte, mit äußerster Brutalität vorgegangen war. Seit Jahresbeginn sollen UN-Angaben zufolge 5600 Menschen im Irak gewaltsam umgekommen sein. (dtj/dpa)