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Panorama

In Handschellen in den Zeugenstand?

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Der ehemalige V-Mann Tino Brandt sitzt in U-Haft. Er soll ein Kind missbraucht haben. Indes wird im Prozess gegen den sogenannten NSU sichtbar, wie knapp eine Iranerin einen weiteren Anschlag in Köln überleben konnte.

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Ein Doppelkinn, schlecht rasiert, mittlerweile eingezwängt in einen engen Hemdkragen statt wie früher in zu eng geratene Fan-T-Shirts rechtsextremer Szenebands: Tino Brandt ist keine Schönheit. Dass er zeitweise wie die Karikatur eines ostdeutschen Neonazis erschien, den man bereits aus hundert Metern Entfernung als „Autonomen Nationalisten“, wie er sich einmal treffend selbst bezeichnete, identifizieren konnte, hinderte ihn allerdings nicht daran, als V-Mann rechtsradikale Kreise in Ostdeutschland zu bespitzeln. Im Gegenzug soll so manches Verfahren wegen strafbarer Handlungen im Zusammenhang mit seiner rechtsextremistischen Kadertätigkeit im Sande verlaufen sein, teils unter tatkräftiger Mithilfe seiner staatlichen Auftraggeber.

Nun ist Brandt wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs festgenommen worden. Laut „Thüringer Allgemeinen“ sei am Mittwoch Haftbefehl gegen ihn erlassen worden. Detaillierte Angaben eines zur Tatzeit 15-Jährigen, den Brandt sexuell missbraucht und anschließend an Freier vermittelt haben soll, führten zu der Festnahme.

Brandt soll trotz U-Haft aussagen

Laut Staatsanwaltschaft Gera wurde in diesem Zusammenhang die Rudolstädter Wohnung Brandts durchsucht. Der Rechtsextremist schweigt zu den Vorwürfen. Das Münchner Oberlandesgericht, das Brandt im Prozess gegen den sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) als Zeuge vorgeladen hatte, teilte hingegen mit, den Neonazi im Falle einer fortbestehenden Untersuchungshaft vorführen zu lassen.

Aufgrund seiner Vergangenheit als Anführer eines Netzwerks rechtsextremistischer Kameradschaften in Ostdeutschland, des Thüringer Heimatschutzes (THS), ist Brandt ein wichtiger Zeuge im sogenannten „NSU-Prozess“. Im THS radikalisierten sich in den 1990er Jahren auch die späteren mutmaßlichen Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe.

Steuergelder verschwinden in dunkle Kanäle

Brandt war selbst eine führende Persönlichkeit in der ostdeutschen Neonaziszene. Seine Kontakte waren dem deutschen Staat in den Jahren 1994 bis 2001 gar mehrere tausend Euro wert. Wirklich neue Erkenntnisse brachte der Thüringer den Behörden allerdings nicht ein.

Der Verfassungsschutz setzte den Neonazi Ende der 1990er Jahre auf Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe an. Die Behörde beauftragte ihn konkret, 2000 Deutsche Mark an den sogenannten „NSU“ weiterzuleiten, mit denen sich die Mitglieder der Terrororganisation auf Staatskosten gefälschte Pässe besorgen sollten.

Das Geld nahm jedoch den Umweg über einen Mittelsmann. In welche dunklen Kanäle es danach verschwand, ist bis heute unklar. Brandt wurde als V-Mann fallengelassen und gilt seitdem als „Verräter“ in Teilen der rechtsextremistischen Szene. Andererseits soll es auch nach Brandts Enttarnung noch zu einzelnen Treffen mit Größen der braunen Szene gekommen sein, wie nicht zuletzt Stefan Aust und Dirk Laabs in ihrem jüngst erschienenen Buch über die Zusammenhänge zwischen dem NSU und dem THS schilderten.

Prozess vor dem Münchner Landesgericht geht weiter

Nach zwei Wochen Pause ging am Donnerstag endlich der Prozess gegen den sogenannten „NSU“ vor dem Münchner Oberlandesgericht weiter. Als ein medizinischer Sachverständiger ein Gutachten zum Fall der Kölner Familie M. –  in deren Geschäft im Jahr 2001 eine Bombe explodierte – vortrug, wurde sichtbar, wie knapp die Tochter der Familie dem Tod entgangen war.

Es ging um Sekunden, wie ein Sprengstoffexperte des bayerischen Landeskriminalamts erklärte. Zum Glück habe die Zündung nicht sofort funktioniert, sonst hätte „akute Lebensgefahr“ bestanden, sagte der Chemiker. Die Explosion traf die Tochter des iranischen Lebensmittelhändlers erst einige Sekunden, nachdem sie die präparierte Christstollendose geöffnet hatte.

Kölner Neonazi an Bombenanschlag beteiligt?

Die Bombe hatte laut Bundesanwaltschaft entweder Mundlos oder Böhnhardt kurz vor Weihnachten 2000 in dem Geschäft in der Kölner Probsteigasse platziert. Als Präsentkorb getarnt, war der Blechbehälter in den Laden gelangt. Obwohl die junge Frau überlebt hatte, waren die Folgen verheerend.

Das Opfer wurde von vielen Splittern getroffen, die Hitze der Stichflamme verbrannte Haut im Gesicht und an den Armen, der Knall zerriss in beiden Ohren das Trommelfell. Die Heimtücke der Tat wurde allen Prozessbeteiligten plötzlich sichtbar und der bürokratisch-klinische Gerichtsalltag geriet damit ins Wanken.

Zwei Nebenklageanwältinnen beantragten, der Spur eines Kölner Neonazis nachzugehen, den der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz nach den Zeugenaussagen ins Spiel brachte. Die Ermittler hatten die Spur damals rasch fallen gelassen. Wie so oft blieben deutsche Fahnder auf dem rechten Auge blind.