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Politik

Mögliche Auswege aus dem EU-Türkei-Dilemma

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Im Jahresbericht der „Human Rights Watch“ (HRW) zieht die Menschenrechtsorganisation eine verheerende Bilanz zur Türkei. Unterdessen bringt eine niederländische Europaabgeordneten einen Vorschlag zur Beilegung der innenpolitischen Krise. (Foto: zaman)

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Türkei und EU Flagge nebeneinander.
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MEINUNG „Die in der Türkei regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) scheiterte dabei, überzeugende Schritte bezüglich der sich verschlechternden Zustände hinsichtlich der innerstaatlichen Menschenrechte und des demokratischen Defizits des Landes zu machen.“ Das ist die kurze Zusammenfassung der jüngsten Momentaufnahme der Türkei, die von der Human Rights Watch (HRW) im Rahmen des mittlerweile 24. Jahresberichts der Organisation über die Menschenrechtspraxis in mehr als 90 Ländern veröffentlicht wurde. Wie erwartet wusste die Vereinigung über die Türkei, die mehr denn je im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit steht, viel Befremdliches zu berichten.

Zufälligerweise fiel die Veröffentlichung des Jahresberichts der HRW mit dem seit Längerem geplanten Besuch des Premierministers Recep Tayyip Erdoğan in Brüssel zusammen, der den Zweck haben sollte, die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU wieder aufzufrischen. Diese offenkundige Absicht, Brüssel unter Druck zu setzen und die gleichzeitige schwere innenpolitische Krise machten aus dem Besuch schnell eine „Alles oder Nichts“-Entscheidung über die schleppend verlaufenden EU-Beitrittsverhandlungen.

Die Enttäuschung über das Auftreten der Regierungspartei AKP hat sich in die Köpfe der europäischen Verhandlungspartner eingebrannt. „Die AKP, die nun seit 2002 und mittlerweile in der dritten aufeinanderfolgenden Wahlperiode an der Regierung ist und eine starke parlamentarische Mehrheit genießt, hat eine stärkere Intoleranz gegenüber der politischen Opposition, öffentlichen Protesten und kritischen Medien entwickelt“, gibt die HRW das wieder, was auch in Brüssel viele denken.

HRW beklagt Schicksal PKK-naher Journalisten

Auch die Unterdrückung der Redefreiheit und die Marginalisierung diverser Meinungen wurden seitens der HRW in deutlichen Worten beklagt. Vieles an Kritik über die Schwäche der Medien wird allerdings nicht nur gegen die Regierung, sondern – wie erwartet – auch gegen die medialen Mischkonzerne gerichtet.

„Das Verschweigen und die parteiische Berichterstattung hinsichtlich der Taksim-Gezi-Proteste in vielen türkischen Medien unterstrich die Zurückhaltung vieler Medienkonzerne hinsichtlich der Bereitschaft, unparteiische Nachrichten zu publizieren, wenn diese mit den Interessen der Regierung im Konflikt stehen. Im Laufe des Jahres wurden vielen Medienmitarbeitern, unter denen sich hoch respektierte und etablierte Journalisten und Kommentatoren befinden, gekündigt, nachdem sie kritisch über die Haltung der Regierung gegenüber den Medien berichtetet hatten.“

In einem anderen Abschnitt weist die HRW auf die Verletzung der Meinungsfreiheit hin: „Die Türkei verfolgte auch 2013 weiterhin Journalisten und mehrere Dutzend davon blieben in Haft. Der Prozess gegen 44 hauptsächlich kurdische Journalisten und Medienmitarbeiter (20 davon sind seit Dezember 2011 in Haft) wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Union der Kurdischen Gemeinschaften (KCK), einem Glied der PKK, wird derzeit fortgesetzt.“

Kopenhagen-Kriterien in Gefahr

Die derzeitigen Sabotageversuche gegenüber den Korruptionsuntersuchungen, die Degradierungen und Versetzungen von Polizisten und die Bedrohung der Judikative in der Türkei seit Mitte Dezember des letzten Jahres gingen zwar nicht in den Bericht mit ein. Wären sie aber behandelt worden, würde dies den Eindruck des HRW-Berichts nur weiter trüben.

Die AKP-Regierung und ihre ihre Lakaien in den Medien sollten wissen, dass die von ihnen zu verantwortenden Rückschritte die Kopenhagen-Kriterien der EU umstoßen. Viele Beobachter und wohlmeinende Freunde der Türkei in Europa haben dies bemerkt und sparen nicht mit mahnenden Worten.

Marietje Schaake, eine niederländische Abgeordnete des Europäischen Parlaments (EP), ist eine von ihnen. In einem ihrer Statements zur Türkei sagt sie: „Die Gewaltenteilung in der Türkei ist unter immensem Druck und die Rechtstaatlichkeit wird nicht aufrechterhalten. Diese Krisen haben Auswirkungen auf die Beziehung zwischen der Türkei und der EU, weil die vorgenommenen Maßnahmen, wie das politische Intervenieren in den Justizbereich, nicht den europäischen Vorgaben entsprechen. Aufgrund des Misstrauens und der Polarisierung hätte eine Ermittlung, die von einem internationalen Komitee von Experten geführt wird, einen großen Effekt. Die Europäische Kommission sollte das Erdoğan und internationalen Partnern erklären. Die Probleme sind nun so groß, dass sie unabhängig ermittelt werden müssen.“

Erdoğan wird der EU die Worte im Mund umdrehen

Eine solche Reaktion ist verständlich, aber ich bin mir nicht sicher, ob das eine positive Auswirkung haben wird. Angesichts der Schadenfreude Erdoğans und der eigenen Probleme der EU, die Erdoğans Regierung als Grundlage für willkommene Ablenkungen betrachtet, dürfte auch dieser Vorschlag nur Wasser auf die Mühlen der AKP und ihres Anti-EU-Wahlkampfes sein.

Das große Dilemma ist die Perspektive, die sich angesichts der derzeitigen Situation in der Türkei ergibt: Ein möglicher Weg würde in einem beängstigenden Mukhabarat-Staatsmodell enden, in dem der Geheimdienst und die Sicherheitsbehörden das letzte Wort haben, ein anderer, der immer noch ein offenes Ende hat, würde hingegen zum Herzen der EU führen. Was den Vorschlag Schaakes so interessant macht, ist, dass er zur Frage führt, ob es möglich wäre, seinen Inhalt mit dem sehr wichtigen Kapitel 23 bezüglich der Judikative zu verbinden und auf eine Eröffnung dieses Kapitels hinzuarbeiten.

Autoreninfo: Yavuz Baydar ist ein international erfahrener türkischer Journalist. Zuletzt war er für Sabah aktiv, verlor dort allerdings seinen Posten, nachdem er Kritik an der Beteiligungspolitik türkischer Medien äußerte. Er schreibt für mehrere Zeitungen und Blogs, der obige Artikel erschien in Today’s Zaman.