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Politik

Leyla İmret: Die kurdische Bürgermeisterin aus Bremen und der „Bürgerkrieg“ von Cizre

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Mehrere Zeitungen machten in den vergangenen Tagen mit einer kontroversen Aussage der Bürgermeisterin von Cizre auf. Die Hintergründe sind symptomatisch für die Weise, auf die die Debatte um die HDP geführt wird.

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Leyla İmret, Bürgermeisterin von Cizre
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Der Kampf um die Deutungshoheit in den immer unerbittlicher geführten Konflikten, die die Türkei gerade heimsuchen, wird mit harten Bandagen geführt. Der HDP wird beständig vorgeworfen, sich nicht deutlich genug vom Terror der PKK zu distanzieren. Auch wenn Spitzenpolitiker wie der Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş die Gewalt der terroristischen Arbeiterpartei Kurdistans bereits mehrfach scharf verurteilt haben, ist es eine legitime Debatte, ob Teile der HDP sich glaubwürdig genug von ihr losgesagt haben. Vor allem die mangelnde Emanzipation der Partei von PKK-Gründer Abdullah Öcalan, der sich bislang auch Demirtaş verweigert, ist ein berechtigter Kritikpunkt.

Dazu ist jedoch Aufrichtigkeit auf allen Seiten eine unerlässliche Voraussetzung. Wirft man einen Blick auf die Berichterstattung der regierungsnahen „Pool-Medien“ („havuz medyası“, wie sie in der Türkei genannt werden), so kommt wenig Hoffnung auf, dass die Debatte über Rolle und Selbstverständnis der HDP in naher Zukunft fair geführt werden wird. Der Fall der  kurdischen Kommunalpolitikerin Leyla İmret ist dafür symptomatisch. Was war passiert?

Von der Bremer Friseurin zur kurdischen Bürgermeisterin

Leyla İmret ist die Co-Bürgermeisterin einer der momentan am meisten von der ausufernden Gewalt gebeutelten Städte der Türkei, dem südostanatolischen Cizre. Die 28-jährige hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich: Als Kind eines bekannten PKK-Kämpfers geboren, der starb als sie 5 Jahre alt war, wurde sie von ihrer Familie zu Verwandten nach Bremen gegeben, wo sie aufwuchs. Sie wollte eigentlich Politik studieren, musste jedoch eine Ausbildung zur Frisörin absolvieren, um einen Arbeitsnachweis zu haben. Ansonsten wäre sie aus Deutschland abgeschoben worden.

Letztes Jahr dann ergriff sie die Chance, in ihre alte Heimat zurückzukehren und ließ sich bei den Kommunalwahlen vom 30. März für die pro-kurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP, Barış ve Demokrasi Partisi) als Kandidatin für das Oberbürgermeisteramt der größtenteils kurdisch besiedelten 110.000-Einwohner-Stadt aufstellen. Sie gewann mit 83% der Stimmen und wurde die drittjüngste Bürgermeisterin der Türkei. Gegenüber dem Türkei-Korrespondenten Frank Nordhausen gab İmret an, sich noch an die Gewalt und den Bürgerkrieg der 90er Jahre erinnern zu können – sie scheint die damaligen und die heutigen Zustände in Cizre also vergleichen zu können.

Das Amt teilt sie sich mit Kadir Kunur, weil die BDP (wie die HDP) für derlei Posten immer Doppelspitzen aus einer Frau und einem Mann vorschreibt. Die BDP ist gewissermaßen der lokalpolitische Arm der HDP, sie tritt nur zu Kommunalwahlen an, nicht landesweit; dafür kandidiert die HDP nicht auf lokaler Ebene. Die politische Programmatik ist dieselbe und es gibt weitreichende personelle Überschneidungen.

Leyla İmret als Kronzeugin für die Militanz der HDP?

In den vergangenen Tagen gelangte Leyla İmret in der Türkei zu unfreiwilliger Berühmtheit, wurde zum Trending Topic bei Twitter. Regierungsnahe und nationalistische Zeitungen machten mit ihrem Konterfei auf – und vor allem mit wenig eleganten Schlagzeilen: „Skandalöse Worte von Leyla İmret!“ titelte Sabah, das Flaggschiff der Pro-AKP-Presse; „Landesverräterische Erklärung von Cizre-Bürgermeisterin Leyla İmret“ schrieb Yeni Asır; die Tageszeitung Sözcü – zwar keineswegs regierungsnah, aber stramm kemalistisch-nationalistisch – schrieb „Verrats-Erklärung von Leyla İmret“. Yeni Şafak und Yeni Akit, zwei weitere Regierungssprachrohre, dachten sich erst gar keine reißerischen Überschriften aus, sondern titelten einfach mit dem Grund für die Aufregung, nämlich einem Zitat İmrets: „Wir führen einen Bürgerkrieg gegen die Türkei“ („Türkiye’ye karşı iç savaş yürütüyoruz“).

In den darauffolgenden, nur wenige Absätze langen Artikeln wird darauf verwiesen, dass İmret für eine (übrigens lesenwerte) VICE-Reportage mit dem Journalisten John Beck über die Zustände in Cizre geredet und dabei ebendiese Aussage getätigt habe. Abgesehen davon, dass es sich nicht wie in allen fünf Zeitungen behauptet um die britische, sondern die US-amerikanische VICE-Ausgabe handelt und die Reportage bereits über einen Monat alt ist, haben die Berichte einen Haken: İmret hat den Satz nie gesagt.

Was sie John Beck, der als freischaffender Nahost-Korrespondent auch für Al-Jazeera, Washington Post und The Guardian schreibt, hingegen wissen ließ, ist folgendes: „Es gibt da ein Sprichwort: ‚Wenn es Frieden gibt, beginnt er in Cizre, und wenn es einen Krieg gibt, dann beginnt der auch hier.‘ Und wir können sagen, dass wir in der Türkei einen Bürgerkrieg haben.“

Zweifelsohne ist auch das eine kontroverse Aussage. Sie ist jedoch eine zumindest debattierbare Einschätzung der Sachlage und Leyla İmret war mitnichten die erste, die diese Auffassung öffentlich äußerte. Es ist ein eminenter Unterschied, ob eine BDP/HDP-Politikerin die Zustände im Südosten der Türkei als Bürgerkrieg bezeichnet (der zwischen der terroristischen PKK und dem türkischen Staat ausgetragen wird) oder ob sie sagt, dass sie selbst beziehungsweise ihre Partei einen Bürgerkrieg gegen die Türkei führe.

Die Propagandamaschinerie und ihre Folgen

Es ist alles andere als Haarspalterei, auf diesen Unterschied hinzuweisen. Das Beispiel verdeutlicht einmal mehr, wie von nationalistischer und regierungsnaher Seite öffentliche Meinungsmache betrieben wird. Die Zeitung Sözcü war gar noch perfider und hat den ersten Teil ihrer Aussage weggelassen, wonach es sich um ein Sprichwort handelt. İmret habe gesagt „Der Bürgerkrieg wird von Cizre ausgehen“, schrieb Sözcü („İç savaş Cizre’den başlayacak“).

Abgesehen davon, dass diese Art der Verleumdung den Boden für die fanatisierten Randalierer bereitet, die allein in den letzten Tagen 172 Büros der HDP angegriffen haben, hat sie direkte juristische Konsequenzen – nicht für die Zeitungen, die die gefälschten Meldungen abgedruckt haben, sondern für Leyla İmret. Wie das türkische Nachrichtenportal Diken am Mittwoch berichtete, hat die Staatsanwaltschaft Küçükçekmece gegen sie Ermittlungen wegen der „Anstiftung zum Aufstand“ und „Propaganda für eine Terrororganisation“ eingeleitet.

Die Mittwochmorgen veröffentlichte Presseerklärung der Staatsanwalt Diyarbakır, wonach Ermittlungen gegen Selahattin Demirtaş aufgenommen werden sollen, und die Gerüchte über ein baldiges Verbotsverfahren gegen die HDP fügen sich da in das Bild. Dass die Zeitungen, die das gefälschte Zitat abgedruckt haben, voraussichtlich nichts zu befürchten haben werden, während innerhalb eines Jahres aus oft fadenscheinigen Gründen über 700 Ermittlungen wegen „Beleidigung des Staatspräsidenten“ gegen Regierungskritiker eingeleitet wurden, ist bezeichnend für den aktuellen Zustand des Rechtsstaats in der Türkei.