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Kolumnen

Wunderbare Zeiten für die Menschen in der Türkei

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Die Behauptung, dass es sich bei der aktuellen Krise in der Türkei um einen Machtkampf zwischen dem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dem islamischen Gelehrten Fethullah Gülen handelt, der ausgebrochen sei, nachdem Erdoğan die Gülen-nahen Schulen schließen wollte, ist irreführend und entspricht so nicht den Tatsachen. Nimmt man die Karriere des Staatspräsidenten genau unter die Lupe, so fällt auf, dass sein Handeln durch eine ganz wesentliche Ambition angetrieben wird: die zielstrebige und durchdachte Expansion seiner Macht.

Sein inzwischen weltweit berüchtigter Palast Ak Saray ist ein herausragender Beleg dafür. Die Bauarbeiten begannen bereits 2011, als Erdoğan noch Ministerpräsident war. Demzufolge müssen die Pläne für den Palast sogar noch älter sein. Man kann die Karriere von Erdoğan rückblickend in wohlsortierten Eskalationsstufe unterteilen. Und diese Eskalationsstufen zünden nach der Wahl des Staatspräsidenten in immer kürzeren Abständen.

Erdoğans „Neue Türkei“

Noch vor der Wahl ließ Erdoğan offen, was er unter einer „Neuen Türkei“ verstehe. Damals unterfütterte er seine Vision mit Erfolgen in der Wirtschaft und in der Verbesserung der Infrastruktur. Inzwischen offenbart er aber zusehends, dass seine Vision von der „Neuen Türkei“ über ökonomische Kennzahlen und Verkehrsprojekte hinausgeht:

Er plädiert dafür, „Osmanische Sprache“ als Schulfach einzuführen und den sunnitischen Religionsunterricht zur Pflicht zu machen. Er lässt durch Dritte aus der Regierung darauf aufmerksam machen, dass er als Staatspräsident ein Schattenkabinett berufen wird. Das – im Übrigen – ist eine von ihm beliebte Methode, um die Reaktionen aus dem Volk zu beobachten, bevor er den nächsten Schritt macht.

Moskau-Ankara-Achse?

Zu seiner Vision gehört offenbar auch die Abwendung vom Westen. Stattdessen möchte er die „Seidenstraße“, mit all ihrer politischen und ökonomischen Bedeutung, wiederbeleben. Er intensiviert die Beziehungen zu Russland und lässt durch den russischen Staatspräsidenten Putin auf eine Moskau-Ankara-Achse hindeuten, die er selber unkommentiert lässt. Scheinbar ist die Zündung dieser Eskalationsstufe noch zu früh.

In diesem Kontext ist der augenscheinliche Machtkampf zwischen den ehemals Verbündeten Erdoğan und Gülen eigentlich gar kein Machtkampf.

Erdoğan versteht es sehr gut, Kritiker oder kritische Gruppen aus dem Weg zu räumen oder zumindest zu schwächen. Manchmal geht er den Weg der direkten Konfrontation oder lässt natürliche Feinde gegeneinander ausspielen. Die EU-Mitgliedschaft eignete sich gut, um die Macht des Militärs zunächst zu beschränken, um es dann gänzlich zurückzudrängen. Die durch Fethullah Gülen inspirierte Hizmet-Bewegung hingegen eignete sich gut, um gegen kemalistische Gruppierungen oder Akteure vorzugehen, da zwischen diesen eine große politische wie ideologische Diskrepanz, ja sogar eine große Abneigung herrschte. Kemalistische Akteure, die vor einiger Zeit aus der Haft entlassen wurden, und die PKK wurden nun dazu genutzt, um die Hizmet-Bewegung zu attackieren.

Das perfekte Szenario

Die Razzien der Staatsanwaltschaft und der Polizei vom 17. Dezember 2013 gegen Erdoğan und seine Familie sowie gegen diverse Regierungsmitglieder wegen Bestechlichkeit wurden genutzt, um einerseits die Justiz im Sinne ihrer Machterweiterung umzubauen, und andererseits gegen die Hizmet-Bewegung vorzugehen, der man seit Jahren eine Unterwanderung der türkischen Justiz vorwirft, die nie bewiesen wurde, aber auch von ihr nie überzeugend widerlegt wurde.

So passte das Szenario perfekt: Weil Erdoğan die Gülen-nahen Schulen schließen wollte, haben Anhänger Fethullah Gülens in der Justiz mit den Razzien vom 17. Dezember 2013 eine Racheaktion gestartet, um gegen den Weltenführer Erdoğan zu putschen, auf den die Welt – insbesondere der Westen – neidisch ist. So bot er dem Volk eine konsistente alternative Erklärung zu den Korruptionsvorwürfen an, die logisch erschien.

Es steht außer Frage: Ende 2013 wollte Erdoğan mit seiner Drohung, die Hizmet-nahen Schulen zu schließen, den Konflikt mit der Bewegung eröffnen. Denn sie passte nicht in die „Neue Türkei“, deren anti-westliche, anti-demokratische sowie freiheitsfeindliche Konturen immer augenscheinlicher werden.

Kein Platz für Gülen und die Hizmet-Bewegung in der „Neuen Türkei“

Fethullah Gülen und die Hizmet-Bewegung mögen zwar im Ursprung religiös-konservativ gewesen sein und im Kern immer noch sein. Aber sie hat sich gewandelt. Dazu gehört fundamental, dass ihre Vorstellung von der Hegemonie islamischer Werte in Richtung interreligiöser Dia- und Trialoge zwischen dem Islam, Christentum und Judentum verschoben hat. In Deutschland vergibt sie herausragenden Persönlichkeiten, die sich für den interreligiösen wie interkulturellen Dialog verdient gemacht haben, fernab ihrer ethnischen, religiösen oder politischen Zugehörigkeit „Dialogpreise“. Im Zuge dieser Entwicklung ist die Hizmet-Bewegung zu einer sozialen Bewegung geworden, die sich geöffnet hat. Dies kann gelingen, wenn demokratische Werte Eingang in die Bewegung gefunden haben.

In seinem in Deutschland erschienen Buch „Was ich denke, was ich glaube“ wurden Schlüsseltexte von Fethullah Gülen veröffentlicht, in dem zentrale Positionen von ihm wiedergegeben werden. So hebt er hervor, dass die Demokratie wichtig sei, weil sie in einer pluralistischen Gesellschaft ein friedliches Zusammenleben gewährleisten könne. In seinem jüngsten SZ-Interview „Auf dem Weg zum ‚Ein-Mann-Staat‘“ kritisiert er die Entwicklung der AKP und Erdoğan scharf.

Die AKP habe „Demokratie, Menschenrechte, die EU-Mitgliedschaft, ein Ende der Korruption, der Stigmatisierung von Andersdenkenden und einen wirtschaftlichen Wiederaufbau versprochen. In den ersten Jahren hielt sie sich auch an all dies. Deshalb haben die Mitglieder unserer Gemeinde sie unterstützt. Aber nachdem die AKP 2011 zum dritten Mal an die Macht kam, hat sie eine komplette Kehrtwendung vollzogen“.

Positive Prognose möglich

Wohin steuert die Türkei nun endgültig? Entfernt sie sich immer mehr von der Demokratie und steuert auf eine Despotie zu? Die Analyse von Trends in der Gesellschaft beherbergt eine besondere Merkwürdigkeit: Trotz negativer Ereignisse in der Gegenwart, kann die Prognose für die Zukunft positiv ausfallen.

Die zunehmende Konzentration der staatlichen Gewalt und Machtbefugnisse auf eine Person kann zu einem sehr wichtigen spieltheoretischen Lerneffekt führen, die in stabilen Demokratie lange schon gegeben ist, aber in der Türkei nicht immer funktioniert und zum Systemversagen geführt hat: Kooperation gesellschaftlicher Gruppen trotz gegensätzlicher Positionen und Programme.

Wenn es gesellschaftlichen und politischen Kräften in der Türkei nun gelingen würde, trotz bisher unversöhnlicher Positionen miteinander zu kooperieren, dann könnten sie nicht nur ihre eigenen Freiheiten bewahren, sondern auch die Grundlage für eine stabile dauerhafte Demokratie in der Türkei schaffen, in der jeder, jede Konfession und Religion, jede Weltanschauung und jedes Lebenskonzept einen Platz hat.

Das ist die Chance für wunderbare Zeiten für alle Menschen in der Türkei und jene, die ihre Wurzeln dort haben.