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Gesellschaft

Wenn die Polizei die Welt durch die rosarote Brille sieht

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Eine Fallanalyse des LKA Baden-Württemberg liefert die Erklärung dafür, warum die Polizei die Mörder der NSU-Opfer ausgerechnet unter deren Hinterbliebenen gesucht hat. Ismail Kul klärt auf über die unfassbare Begründung.

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Wenn die Polizei die Welt durch die rosarote Brille sieht
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Von Ismail Kul
MEINUNG Nach dem Auffliegen der NSU-Zelle wurde in Deutschland viel spekuliert: Wie konnte das passieren? Wie konnte es sein, dass die Mörder über zehn Jahre lang unentdeckt blieben? Und vor allem: Warum hat die Polizei so unglaublich lange in die falsche Richtung ermittelt? Warum suchte sie die Mörder von acht türkischen und einem für einen Türken gehaltenen Griechen im Verwandtenkreis der Opfer?

Fragen über Fragen. Es ist aber nicht so, dass diese Fragen bisher sämtlich ohne Antwort geblieben wären. Es gibt durchaus eine Antwort auf die Frage, warum die Polizei in die falsche Richtung ermittelt und die Mörder im Verwandtenkreis und unter den Hinterbliebenen der Mordopfer gesucht hat. Und diese Antwort liefert eine sog. Operative Fallanalyse des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg aus dem Jahr 2007 zu den Mordfällen.

In dem Dokument mit dem Datum 30.01.2007 ist bezüglich der möglichen Täter auf den Seiten 162 und 163 zu lesen: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.”

Das ist natürlich beamtendeutsch. Übersetzt heißt das: Ein Europäer tötet keinen Menschen. In unseren Breitengraden ist der Mord kein allgemein akzeptierter Konfliktlösungsweg. Wenn es zu einem Mord gekommen ist, sogar mit einem Türken als Mordopfer, liegt es von daher auf der Hand, dass der Täter auch unter Leuten zu suchen ist, die diesem Kulturkreis angehören.

Gehören die rechtsextremen Täter einem anderen Kulturkreis an?

Was hieraus spricht, ist purer Ethnozentrismus. Und Ethnozentrismus an sich wäre noch gar kein Problem. Es ist eigentlich – vom Blickwinkel des Otto Normalbürger aus betrachtet – normal, die Welt vom eigenen Fenster aus wahrzunehmen. Es ist auch normal, das Eigene als etwas ganz Normales zu sehen, das Fremde dagegen mal mit Neugier, mal mit Unverständnis zu betrachten, ja wenn es sein muss sogar als Bedrohung wahrzunehmen. Dies ist etwas Menschliches.

Aber man sollte doch etwas stutzig werden, wenn Sicherheitsbehörden, genauer gesagt die Polizei, sich nicht vorstellen können, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis, in der eigenen Gesellschaft stattfindet.

Natürlich ist die Tötung von Menschen in diesem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt. Wie kommt man aber zu der Einschätzung, dass sie etwa im türkischen Kulturkreis als etwas ganz Normales, als gängiges Konfliktlösungsmittel betrachtet würde?

Sollte die Polizei nicht mit pathologischen Fällen, mit dem Kriminellen, ja auch mit dem Bösen vertraut sein, auch wenn im eigenen Kulturkreis der Mord geächtet ist? Und was ist mit den über 180 Opfern rechtsextremer Gewalt seit 1990, die es nach Zählung durch die Amadeu-Antonio-Stiftung gegeben habe? Gehören da die Täter einem anderen Kulturkreis an?

Keine Frage: Mord ist in unserem Kulturkreis und in diesen Breitengraden mit einem hohen Tabu belegt. Das ist sicher. Aber ob auch die Polizisten, die sich Mord und Totschlag im eigenen Kulturkreis nicht vorstellen können, in unserer Gesellschaft leben, darf bezweifelt werden.