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Politik

Die stillen und geduldigen Regimewächter im Hintergrund

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Das Militär war in der Türkei nicht nur im Osmanischen Reich von großer Bedeutung. Nach der Republikgründung rückte es etwas in den Hintergrund, unter Erdoğan endete seine Vormundschaft. Wir unterhielten uns mit Doğan Ertuğrul über seine Rolle in der Politik.

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Ein türkischer Soldat salutiert vor einer türkischen Flagge.
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Wenn in der Türkei vom Staat die Rede ist, fallen immer wieder die Begriffe „tiefer Staat“, das Militär und Ergenekon. Das scheint sehr kompliziert zu sein. Ist der Staat gleich dem Militär?

Das sind keine identischen Begriffe, die man ohne weiteres ersetzen kann. Sie werden vielmehr in den Medien verwendet; es sind keine Begriffe aus der Politikwissenschaft, die klar definiert sind. Der Begriff „tiefer Staat“ ist ein sehr funktionaler Begriff und wird vielseitig verwendet. Wenn ich vom tiefen Staat spreche, meine ich Strukturen, Institutionen, Akteure und Netzwerke im Staat, die gegen die Mehrheit des Volkes, gegen eine demokratisch gewählte Regierung wirken. Eine Schaltstelle dieser Kräfte war bis vor einigen Jahren das Militär. Es sah sich bevollmächtigt, zur Not gegen eine demokratisch gewählte Regierung zu putschen. Seine Stellung im politischen System war falsch. Die AKP hat sich bemüht, so wie es sich in einer normalen Demokratie gehört, die Militärs in ihre regulären Schranken zurück zu drängen und hat auch wichtige Schritte in diese Richtung unternommen. Aber den Demokratisierungsprozess hat sie leider nicht vollendet. 

Ist das türkische Militär wirklich so homogen wie es von außen den Anschein hat?

Nein. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es seit der Gründung der Republik verschiedene Fraktionen in der türkischen Armee gibt. Während des Übergangs zum Mehrparteiensystem in den 1950er Jahren gab es beispielsweise diejenigen, die einen NATO-Beitritt befürworteten und jene, die dagegen waren. Es gab jene, die stärker in die Politik eingreifen und bei jeder Gelegenheit einen Militärcoup durchführen wollten sowie jene, die gegen einen Putsch waren. Es gab rechte Gruppen genauso wie linke. Und auch nach dem NATO-Beitritt gab es jene, die eine Annäherung an die Sowjetunion befürworteten und jene, die dagegen waren.

Welche Gruppierungen gibt es aktuell in der Armee?

Bis vor fünf Jahren gab es Generäle, die eine offene Konfrontation mit der Regierung lautstark unterstützten und durch medienwirksame Androhungen von Massenrücktritten die Politik zu gestalten versuchten. Heute kennen nur wenige in der Öffentlichkeit die Namen der Stabschefs. Das ist etwas Gutes. Das Militär redet nicht politisch und mischt sich nicht in die Tagespolitik ein.

Wieso? 

Diese Frage wurde auch dem Ex-Generalstabschef Necdet Özel bei seiner Pensionierung im Jahre 2015 gestellt. Er antwortete, dass es reichlich andere Wege gebe, Probleme zu lösen. Es scheint, als ob die Militärführung einiges an Aufwand investiert hat, um die Freilassung der im Zuge der Ergenekon- und Balyoz-Prozessen inhaftierten und verurteilten Generäle zu ermöglichen und ihren Ruf wiederherzustellen. Und sie war durchaus erfolgreich darin.

Wäre der Ergenekon-Prozess ohne die Mitwirkung der Militärs überhaupt möglich gewesen?

Eine der Personen, die dazu beigetragen haben, dass es überhaupt zu dem Gerichtsprozess kommen konnte, war der Leiter der Abteilung für Militärgeheimdienst Recep Güven. Er war es, der dem Gericht die nötigen Akten übergab. Ich habe ihm genau diese Frage gestellt. Er sagte mir: „Wenn die Armeeführung es nicht gewollt hätte, wäre es keiner Macht gelungen, in die Kasernen zu gehen und Generäle zu verhaften. Der Generalstab hat das von mir eingeleitete Verfahren unterstützt und ich habe sie über den aktuellen Stand laufend informiert.“ In der Armee gab es damals Verantwortliche, die der Ansicht waren, dass die Zeit der Militärputschs vorbei war und sie wollten, dass die Putschisten sich vor einem Gericht verantworten.

Viele Experten vertreten die Meinung, dass der Teil des Staates, den sie als tiefen Staat bezeichnen, mit der NATO in Verbindung steht. Trifft das zu?

Das, was ich als tiefer Staat bezeichne, ist die Rolle, die die Gründungsväter der Republik dem türkischen Militär zugeteilt haben. Entsprechend dieser Rolle sieht sich das Militär als Regimewächter und als solcher über den demokratisch gewählten Regierungen. Das Ganze hat auch eine NATO-Dimension.

Welche wäre das?

In den Jahren des Kalten Krieges hat die NATO wie in Italien auch in der Türkei aus der (Sicherheits)bürokratie und der Zivilgesellschaft Gruppen organisiert, die im Falle einer sowjetischen Invasion Widerstand leisten sollten. Sie war ein Teil der Struktur des tiefen Staates. Jedoch ist der tiefe Staat in der Türkei mehr als das. Die Zahl der Generäle, die gegen die NATO sind, ist nicht klein und bei dem Ergenekon-Prozess waren es überwiegend ebendiese Generäle, gegen die Anklage erhoben wurde. Ich sehe nicht darin das Grundproblem. Das eigentliche Problem ist die Vormundschaft der Militärs über die demokratische Ordnung und Verfassungsinstitutionen.

In den letzten Monaten hört man des Öfteren den Namen Doğu Perinçek. Er ist Vorsitzender der Vatan Partisi, die bei den Wahlen nicht über ein Prozent der Wählerstimmen hinauskommt. Oft tritt er auch in regierungsnahen Sendern auf und sagt, dass die Bekämpfung der Hizmet-Bewegung sein Projekt sei und die AKP lediglich seine Linie übernommen habe. Wer ist Perinçek und welche Rolle spielt er?

Perinçek ist ein linker Ideologe, der seit den 1970er Jahren eine Kulturrevolution nach dem Vorbild des chinesischen Revolutionsführers Mao verteidigt. Diese Revolution sollte nach seiner Auffassung auch gegen die NATO gerichtet sein und die Türkei Teil eines regionalen Anti-Nato-Bündnisses gemeinsam mit Russland und China werden. Perinçek ist ein anti-islamischer und antireligiöser Kemalist, der für den orthodoxen Kemalismus, wie er in der der Gründungszeit der Republik praktiziert wurde, eintritt. Dieser Kemalismus hat immer noch eine starke Tradition in der Türkei, insbesondere im Staatsapparat. Es ist eine säkulare Tradition, die alle religiösen Gemeinschaften und Orden als Gefahr einstuft und sie bekämpft.

Ausgehend von dieser Grundauffassung ändert Perinçek seine Positionen je nach aktueller politischer Wetterlage. Seit seiner Entlassung aus der Haft verfolgt er eine AKP-nahe Linie. Er war in den Bürgerkriegsjahren der 1970er und nach dem Militärputsch von 1980 sehr einflussreich. Perinçek ist ein Netzwerker, der großen Wert auf Kaderbildung legt. Nicht nur in der Armee und in der Justiz hat er einen bestimmten Einfluss. Viele, die heute in den Mainstream-Medien arbeiten, stammen aus seinem Umfeld. Falls es eine Gruppe im tiefen Staat gibt, die den eisernen Kern des Kemalismus bildet, dann ist er die Symbolfigur dieser Gruppe.

Nicht mehr als eine Symbolfigur?

Er war im Rahmen der Ergenekon-Prozesses angeklagt und verbrachte sechs Jahre im Gefängnis. Perinçek steht in engem Kontakt mit vielen ehemaligen und amtierenden hohen Armeeangehörigen. Ein wichtiger Teil der Ex-Generäle unterstützt offen seine Partei, die bei den Wahlen nicht einmal ein Prozent der Stimmen auf sich vereinigen kann. All dies sind Zeichen – mehr aber auch nicht – dass er mehr ist als eine Symbolfigur.


Der Journalist Doğan Ertuğrul beobachtet und beschreibt seit nunmehr 25 Jahren die türkische Innenpolitik. Bevor er vor knapp zwei Jahren angefangen hat, für die ehemals oppositionelle Tageszeitung Zaman (sie steht mittlerweile unter staatlicher Zwangsverwaltung) zu schreiben, war er jahrelang Redaktionsleiter bei der regierungsnahen Tageszeitung Star.