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Gesellschaft

Der Hass auf die Opfer

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Viele Türken fragen sich, warum nach den Terroranschlägen von Ankara und Istanbul eine internationale Anteilnahme wie nach Paris ausgeblieben ist. Einer der Gründe lässt sich an einem Tweet ablesen.

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Nach den Terroranschlägen von Paris im vergangenen Jahr war die weltweite Anteilnahme groß. 130 Menschen verloren damals ihr Leben. In der türkischen Hauptstadt waren es vergangenen Sonntag 37. Zählt man allein die drei Anschläge der letzten fünf Monate in Ankara zusammen, kommt man auf 175 Tote. So jedenfalls lauten die offiziellen Zahlen. Die Türkei wird derzeit vom Terror gegeißelt wie kein anderes europäisches Land. Doch eine Anteilnahme wie in Paris bleibt aus. Viele in der Türkei und in der türkischen Community in Europa fragen sich frustriert, warum – und beklagen moralische Doppelstandards der Europäer. Wo sind die Facebook-Profilbilder mit türkischen Fahnen, wo waren die „Je suis Sultanahmet“-Hashtags?

Doch so einfach ist die Sache nicht. Der Tweet einer Studentin der Istanbuler Bahçeşehir-Universität vom Montag zeigt deutlich, weshalb. Am Tag davor hatte sich ein furchtbarer Terroranschlag ereignet, viele Landsleute sind gestorben, darunter junge Menschen, Studenten. Doch Ayşe Hümeyra Okur, eine überzeugte AKP-Anhängerin, zeigt nicht die geringste Spur von Anteilnahme mit den Toten oder ihren Hinterbliebenen. Mehr noch: Sie ist so zynisch, Schadenfreude zu zeigen.

In ihrem Tweet schreibt sie: „Die Hälfte der Getöteten waren CHP-Anhänger. Die andere Hälfte gehörte der Parallelstruktur an. Also: Wo ist das Problem!!!“ Die CHP ist die größte Oppositionspartei der Türkei, mit der Parallelstruktur ist die Hizmet-Bewegung gemeint, die von Erdoğan und dem AKP-Staat systematisch bekämpft wird. Dass die Studentin Anhängerin der regierenden AKP ist, geht recht eindeutig aus ihrem Profil hervor. Sie repräsentiert stellvertretend den Hass, den so viele AKPler mittlerweile auf alle Andersdenkenden zu hegen scheinen.

Bevor sich unsere Gesellschaft und internationale Stars wie Arda Turan fragen, warum die internationale Anteilnahme ausbleibt, bevor sie mit den Zeigefinger auf andere zeigen, sollten einige dringende Fragen beantwortet werden: Woher kommt der Hass dieser jungen Studentin auf Andersdenkende? Wer hat sie derart radikalisiert? Wann ist der Grundkonsens der Gesellschaft verloren gegangen, dass man verschiedener Meinung sein kann, aber existentielle Erfahrungen wie der Tod alles andere in den Hintergrund drängen? Dass in solchen Situationen die Menschlichkeit die Oberhand gewinnen muss? Hat diese Radikalisierung vielleicht mit einem Staatspräsidenten zu tun, der seit Jahren das Land polarisiert? Als vermeintlich unparteiisches Staatsoberhaupt die Opposition beleidigt, sie gar des Terrors beschuldigt? Und neuerdings auch offen die Verfassung und das Verfassungsgericht missachtet?

Das Problem in der Türkei ist hausgemacht. Selbst nach dem Anschlag auf eine HDP-Demonstration in Ankara, der verheerendsten Terrorattacke der türkischen Geschichte, schaffte es die türkische Gesellschaft nicht, auch nur für einen Tag die Gräben zu überwinden, die sie spalten. Es gab keine gemeinsame Demonstration der Trauer wie in Paris, stattdessen wurden Schweigeminuten in Fußballstadien ausgepfiffen, gegenseitige Anschuldigungen erhoben und die Anschläge hemmungslos instrumentalisiert – und das vor allem von der Regierung. Auch die Opposition bekleckerte sich nicht gerade mit Ruhm. So schafften es die im Parlament vertretenen Parteien weder nach dem Anschlag im Februar noch nach jenem vom Sonntag, eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden, in der die Terroranschläge verurteilt werden – vor allem aufgrund der Verweigerungshaltung der HDP.

Die Regierung muss sich darüber hinaus auch noch ernsthaft fragen lassen, wie viel Verantwortung sie selbst für die Ereignisse trägt. Schließlich hat sie jahrelang mindestens tatenlos zugesehen, wie sich der IS im Land breitmachte. Und noch viel grundlegender: Egal ob IS, TAK, PKK oder sonst wer, wenn sich innerhalb von fünf Monaten drei schwere Anschläge mitten im Stadtzentrum der Hauptstadt ereignen können, dann muss sich der türkische Staat fragen lassen, warum er nicht fähig oder unwillens ist, seine eigenen Bürger zu schützen.

Und das ist der Knackpunkt: Mit welcher Türkei soll man sich da solidarisieren? Während in Frankreich eine ganze Nation geschlossen auf die Straße ging – über eine Million Menschen allein in Paris – und für ein paar Tage die politischen Grabenkämpfe ruhen ließ, hat man in der Türkei eine Regierung, die sich weigert, Verantwortung zu übernehmen, und eine Bevölkerung, die sich lieber gegenseitig bekriegt, als im Angesicht des Terrors zusammenzustehen. Wenn die Türkei nicht einmal selbst um ihre Toten trauern kann, wie soll es dann ein anderes Land tun?