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Kolumnen

Der starke Mann am Bosporus

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Die Türkei hat sich unter Erdoğan vom kranken zum starken Mann am Bosporus entwickelt. Die Türkei ist mittlerweile eine wirtschaftlich und politisch wichtige Regionalmacht. Doch wie steht es um Erdoğans wichtigstes Wahlversprechen?

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Der starke Mann am Bosporus
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Der deutsche Militärberater Helmuth von Moltke lebte in den Jahren von 1835 bis 1839 in Konstantinopel, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches. In seinen Aufzeichnungen über den Zustand des langsam zugrunde gehenden Osmanischen Reiches schreibt er: „Es ist lange die Aufgabe abendländischer Heere gewesen, der osmanischen Macht Schranken zu setzen; heute scheint es die Sorge europäischer Politik zu sein, diesem Staat das Dasein zu fristen.“

Wie wir heute wissen, ist das Osmanische Reich später zerfallen und aus seinen Trümmern 1923 die moderne Türkei entstanden. Doch die Sorgen der europäischen Politik sind geblieben: Wie stark darf die Türkei werden, wie schwach kann sie noch lebensfähig sein? In den letzten Jahren ist es eher die Stärke denn die Schwäche der Türkei, die der europäischen Politik Kopfschmerzen bereitet. Wie wirkt sich eine zu starke Türkei auf die politischen, wirtschaftlichen und strategischen Interessen europäischer Länder im Nahen Osten, einem der geopolitisch wichtigsten Gebiete der Welt, aus?

Während die europäischen Politiker Antworten auf diese und andere Fragen, die eine immer stärker werdende Türkei hervorruft, suchen, erlebt die Türkei unter Erdoğan ein rasantes wirtschaftliches Wachstum und politisch ist sie so stabil wie seit der Republikgründung nicht mehr.

Keine Opposition, die auf Demokratie setzt

Erdoğan ist auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt. Er ist der starke Mann eines starken Landes. Weder das Militär, welches sich jahrzehntelang als ein über dem Primat der Politik stehender Schützer der kemalistischen Ordnung sah und mehrmals die Macht an sich riss, noch die Oppositionsparteien, die immer noch nicht auf eine demokratische Ablösung mit konstruktiver Oppositionsarbeit abzielen, sondern mit einem Auge auf das Militär schielen, sind für Erdoğans Macht eine Bedrohung. Nach dem Ergebnis einer Umfrage durch das Büro für Politische Kommunikation (SİLO) würde die regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) bei einer derzeitigen Wahl mit 49% nur unerheblich unter dem Ergebnis von 50% bei den Wahlen im Juni 2011 liegen.

Der Umfrage zufolge würde die CHP auf 26% kommen, wie auch vor einem Jahr. Die „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) käme auf 14,6%, was ein leichtes Plus von 1,5% bedeuten würde. Die prokurdische „Partei für Frieden und Demokratie“ (BDP) bekäme 6,9%. Sie wäre wieder mittels unabhängiger Kandidaten über Direktmandate im Parlament vertreten. Gefragt nach der Leistung der CHP als der größten Oppositionspartei des Landes gaben fast 59% an, die CHP würde eine suboptimale Performance an den Tag legen, nur 13,9% äußerten sich zufrieden. Noch entmutigender sind die Zahlen für die MHP. Während ihr 8,9% Erfolg in ihrer Oppositionstätigkeit bescheinigen, geben 59,7% das Gegenteil an.

Erdoğan gegen Erdoğan

Eine Gefahr gibt es dennoch. Erdoğan kann sich selbst schaden. Wenn er die wichtigste Spielregel der Demokratie, nämlich, dass das Volk der Souverän ist, nicht einhält, kann ihm das zum Verhängnis werden. Er hat in den vergangenen Jahren drei wichtige Wahlen gewonnen. Bei all diesen Wahlen spielte die alte, von den Militärs erstellte Verfassung eine wichtige Rolle. Die letzten beiden Male hat er mit dem Versprechen, eine neue demokratische Verfassung zu erstellen, um die Gunst der Wähler geworben. Diese neue Verfassung ist er dem Volk immer noch schuldig. Wenn er die so wichtige Verfassungsfrage zur Schicksalsfrage über seine eigene politische Zukunft macht und nicht zu diesem Zweck nach einem Konsens mit anderen politischen Kräften strebt, kann ihm das teuer zu stehen kommen. Nach den für 2014 angesetzten Präsidentschaftswahlen stehen die Wahlen zur türkischen Nationalversammlung an. Im Falle einer Wahl Erdoğans zum Staatspräsidenten müsste die AKP ohne ihn in die Parlamentswahlen ziehen.

Die Reorganisation der Ulusalcı-Kräfte

Ein weiteres Problem stellt die Ulusalcı-Front dar, deren erklärtes Ziel es ist, Erdoğan von der Macht zu verdrängen, ganz gleich, mit welchen Mitteln. Die ultranationalistische Ulusalcı-Front ist eine in Teilen terroristische Bewegung, die auf Gewalt und Anarchie als Destabilisierungsinstrumente setzt. Sie hat in den vergangenen Jahren mehrere Rückschläge einstecken müssen. Das Ergenekon-Verfahren hat ihre wichtigsten Protagonisten – unter ihnen auch viele Militärs, die an einem Putsch gearbeitet hatten – außer Gefecht gesetzt. Beim Referendum im September hat das Volk mit 58% für die Änderungsvorschläge der AKP gestimmt und bei den darauffolgenden Wahlen zur Nationalversammlung konnte die Regierungspartei fast 50% der Stimmen auf sich vereinigen. Jedoch befinden sich die Ulusalcı-Kräfte in einer Reorganisationsphase. Die Ausschreitungen am Rande der Feierlichkeiten zum Fest der Republikgründung am 29. Oktober haben gezeigt, wozu sie in der Lage sind. Wenn die Ulusalcı-Kräfte zusätzlich Unterstützung von Teilen der Medien bekommen, die bei der Entstehung von Krisen in der Türkei stets eine fragwürdige Rolle zu spielen verstehen, könnte es für Erdoğan eng werden. Erdoğans erklärtes Ziel ist es, die Türkei bis mindestens 2023 zu führen. Dann findet das hundertjährige Jubiläum der Republik statt. Gewiss ist das nicht. Und für viele altgediente Kemalisten ist allein die Vorstellung, die Feierlichkeiten mit Erdoğan an der Spitze des Staates zu begehen, ein Albtraum.
Süleyman Bağ