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Politik

Ein halbes Jahr nach dem Putsch: „Säuberungen“ gehen unerbittlich weiter

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Präsident Erdoğan hatte nach dem Putschversuch in der Türkei „Säuberungen“ im Staatsapparat angekündigt, über 100 000 Menschen verloren ihre Jobs, zehntausende wurden verhaftet. Ein halbes Jahr später ist immer noch kein Ende absehbar: Wieder verlieren Tausende ihre Jobs. Diesmal trifft es auch viele Akademiker, die einen Friedensaufruf gegen die Gewalt im Südosten der Türkei unterzeichneten.

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türkischer Präsident Recep Tayyip Erdogan
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Der gescheiterte Putschversuch in der Türkei ist mehr als ein halbes Jahr her. Doch die „Säuberungen“ in Staat und Gesellschaft gehen unvermindert weiter. Mit einem neuen Dekret, das in der Nacht zu Mittwoch im Amtsanzeiger veröffentlicht wurde, hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan weitere 4464 Beamten entlassen, darunter 330 teils international bekannte Akademiker. Betroffen sind beispielsweise Prof. Dr. Nur Betül Çelik, Mine Gencel Bek und Funda Başaran Özdemir von der Fakultät für Kommunikationswisschenschaften der Universität Ankara. Bek hatte sich in ihrer akademischen Karriere kritisch mit dem türkischen Mediensystem auseinandergesetzt. Am Insitut für Politikwissenschaft der Universität Ankara wurden unter anderem Prof. Dr. Ahmet Haşim Köse, Murat Sevinç und Pınar Ecevitoğlu entfernt. Ihnen werden mit der Entlassung ebenfalls die Pensionsansprüche und Versicherungsleitungen gestrichen, eine neue Beschäftigung zu finden ist angesichts der aktuellen politischen Lage für viele von ihnen ausgeschlossen. Die Möglichkeit, gegen die Entlassung Widerspruch einzulegen, gibt es nicht.

Mehr als die Hälfte der entlassenen Akademiker sei Teil des Netzwerks „Akademiker für Frieden“, das sich mit einer Petition im vergangenen Jahr für ein Ende der Militäreinsätze im Südosten der Türkei einsetzte, sagte der Akademiker Hakan Kocak aus dem Netzwerk am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul.

Mehr als 1100 Wissenschaftler hatten den ursprünglichen Aufruf vom Januar vergangenen Jahres unterzeichnet, in dem der Regierung eine „Vernichtungs- und Vertreibungspolitik“ in den mehrheitlich kurdischen Gebieten vorgeworfen wurde. Die Regierung und ihre Anhänger gehen seitdem hart gegen Unterzeichner des Aufrufs vor. Mehrere von ihnen wurden vorübergehend festgenommen. Dutzende verloren bereits vor dem neuen Notstandsdekret ihre Arbeit, darunter auch Kocak. Im vergangenen Mai war der Initiative der Aachener Friedenspreis verliehen worden.

Lehrpersonal erneut am stärksten betroffen

Am stärksten von der jüngsten Entlassungswelle betroffen ist jedoch das Bildungsministerium: Dort verlieren 2585 Menschen wegen angeblicher Verbindungen zu Terrororganisationen oder Gruppen, die die nationale Sicherheit gefährden, ihren Job. Fast alle davon sind Lehrer, an denen es aufgrund der Massenentlasssungen seit einem halben Jahr in vielen Regionen der Türkei bereits mangelt.

Bei der Polizei und der Gendarmerie wurden insgesamt 1310 Beamte mit sofortiger Wirkung aus dem Dienst entfernt. Betroffen von den Entlassungen sind auch die Wahlkommission, der Staatssender TRT, das EU-Ministerium, das Innen- und das Außenministerium sowie weitere Behörden. Die entlassenen Staatsbediensteten werden in Anhängen zu dem Dekret erneut namentlich benannt. Diese Praxis ist umstritten, da die Betroffenen damit öffentlich an den Pranger gestellt werden, ohne jemals von einem Gericht verurteilt worden zu sein.

Seit Verhängung des Ausnahmezustands in Folge des Putschversuches vom Juli 2016 kann Erdogan per Dekret regieren. Die Dekrete haben Gesetzeskraft und gelten ab ihrer Veröffentlichung, das Parlament muss sie nur nachträglich bestätigen. Der bereits zweimal verlängerte Notstand gilt nach derzeitigem Stand bis zum 19. April.

Für den Putschversuch macht Erdogan die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. Nach Angaben der türkischen Regierung sitzen im Zusammenhang mit dem Putschversuch mehr als 40 000 Menschen in Untersuchungshaft, rund 100 000 Staatsbedienstete wurden entlassen.