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Politik

Im Schatten von Erdoğan: Koalitionspoker hat begonnen

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In Ankara hat heute die erste Runde der Koalitionsverhandlungen begonnen, Premierminister Davutoğlu traf sich mit dem CHP-Vorsitzenden. Viele Beobachter gehen davon aus, dass vor allem Präsident Erdoğan gezielt auf Neuwahlen zusteuert.

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In Ankara hat heute auch offiziell das Pokern um die Bildung einer neue Regierung begonnen. Bereits am Donnerstag hatte Staatspräsident Erdoğan den Auftrag zur Regierungsbildung nach langer Verzögerung an Ahmet Davutoğlu vergeben, den Vorsitzenden der größten Partei im Parlament, der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt AKP. Heute traf sich Davutoğlu mit Kemal Kılıçdaroğlu, dem Vorsitzenden der größten Oppositionspartei CHP, für morgen und übermorgen sind Gespräche mit Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der ultranationalistischen MHP, sowie Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, den beiden Vorsitzenden der pro-kurdischen, linken HDP angesetzt.

Diese ersten drei Gespräche sind in der Regel noch keine Koalitionsverhandlungen im engeren Sinne, sondern dienen Sondierungen zu möglichen Koalitionsoptionen und der Möglichkeit von Neuwahlen, die nach wie vor im Raum steht. Der Beginn der eigentlichen Koalitionsverhandlungen wird frühestens in der zweiten Gesprächsrunde erwartet, die nach dem Ramadan-Fest Ende dieser Woche stattfinden soll. Zwar betonte Premierminister Davutoğlu, dass seine Partei dabei keine Vorbedingungen stelle und unvoreingenommen mit allen Oppositionsparteien verhandeln wolle, eine klare rote Linie zog er aber trotzdem: „Wir haben keine Vorurteile oder Vorbedingungen. Dennoch können wir das Amt des Präsidenten nicht zur Debatte stellen“, so Davutoğlu.

Erdoğans langer Schatten über der Regierungsbildung

Die Amtsführung Präsident Erdoğans, der per Verfassung zur Neutralität verpflichtet ist, aber bereits im Wahlkampf immer wieder Partei für die AKP ergriff und nach wie vor als starker Mann im Hintergrund gilt, wird voraussichtlich ein bedeutender Streitpunkt in den kommenden Verhandlungen sein. Die MHP hatte vor wenigen Wochen vier Voraussetzungen für eine Koalition mit der AKP genannt, die Beschränkung der Macht Erdoğans auf die in der Verfassung vorgegebenen Grenzen war dabei der erste Punkt. Auch die CHP und die HDP haben seit dem Wahlkampf durchgehend betont, dass Erdoğan sich an seine verfassungsmäßige Rolle halten müsse.

Ihm wird unterstellt, gezielt auf Neuwahlen hin zu arbeiten, um die bisherige Pattsituation aufzulösen und in einem erneuten Wahlgang die absolute Mehrheit für die AKP zurückzuerobern. Angesichts der Unwägbarkeiten, die dieser Kurs für viele AKP-Abgeordnete mit sich bringt, scheint er jedoch auch in der Partei selbst auf Widerstand zu stoßen, der freilich nicht offen geäußert wird. Auch die Verweigerungshaltung der MHP, insbesondere ihres Vorsitzenden Bahçeli, spielt Erdoğan bei seinem Kurs gen Neuwahlen in die Hände. Die heillos zerstrittene Opposition, die sich nicht mal in der Lage zeigte, sich auf einen Parlamentspräsidenten zu einigen, geschweige denn einen konstruktiven Gegenentwurf zur AKP-(Allein-)Herrschaft zu präsentieren, liefert Erdoğan damit die besten Argumente, wenn er wieder mal behauptet, ein Präsidialsystem sei notwendig und Koalitionen würden in der Türkei nicht funktionieren.

Nach wie vor Möglichkeit von Neuwahlen, vor allem dank der MHP

Sollte es Davutoğlu nicht schaffen, eine Koalition mit mindestens einer anderen Partei im Parlament zu bilden, so wird der Auftrag zur Regierungsbildung an den Vorsitzenden der CHP Kemal Kılıçdaroğlu weitergegeben. Nach Ablauf der 45-Tage-Frist Ende August könnte der Staatspräsident in Absprache mit dem Parlamentspräsidenten Neuwahlen ausrufen, deren Termin voraussichtlich der 22. November wäre. Bis dahin würden die Regierungsgeschäfte in den Händen einer Übergangsregierung liegen, die proportional zum Wahlergebnis aus Mitgliedern aller vier im Parlament vertretenen Parteien gebildet wird.

Die Kalkulation einiger AKP-Politiker scheint zu sein, dass das Verhalten der Opposition vom Wahlvolk als eine Bestätigung der Erdoğan’schen Rhetorik gegen Koalitionsregierungen und für ein starkes Präsidialsystem gesehen wird. Auch die Debatte um einen möglichen Einmarsch in Syrien, die kürzlich aufkam, wird von vielen Analysten und Kommentatoren in diesem Kontext beurteilt. Mit ihrer demonstrativen Kompromissunfähigkeit gehört die MHP also momentan zu den besten Helfern der AKP, nicht zuletzt auch, weil ihr Verhalten die Annahme stärkt, dass im Falle von Neuwahlen die Ultranationalisten um Devlet Bahçeli für ihren destruktiven Kurs abgestraft werden könnten. Bedenkt man, dass AKP und MHP prinzipiell dieselben Wählerschichten ansprechen, so kann man sich denken, wohin die verlorenen Stimmen wandern würden.