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Kolumnen

Der NSU-Bericht und die halbe Wahrheit

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Der NSU-Bericht stellt ein Versagen der Sicherheitsbehörden fest und beinhaltet Verbesserungsvorschläge. Gewiss, die Sicherheits-behörden haben sich nicht mit Ruhm bekleckert, aber lenkt der Hinweis auf sie nicht von den wahren Ursachen ab? (Foto: cihan)

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Die NSU-Untersuchungskommission stellte vergangene Woche in Berlin ihren Abschlussbericht vor.
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„Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen“, so ein Ausspruch des französischen Diplomaten Talleyrand. Wenn die Sprache dazu dient, die eigenen Gedanken zu verbergen, wozu dienen dann Berichte? Beispielsweise der NSU-Bericht der Untersuchungskommission des Deutschen Bundestages? Was zeigt er; was verdeckt er? Der 1357 Seiten dicke Bericht wurde in der Vorwoche dem Bundestagspräsidenten übergeben und anschließend der Presse vorgestellt.

Erinnern wir uns: Die Kommission nahm im Januar 2012 seine Arbeit auf, zwei Monate, nachdem die sogenannten „Döner-Morde“ aufgeklärt wurden. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass die acht türkischen und griechischen Bürger nicht von ihren Landsleuten, sondern von einem rechtsextremistisch ausgerichteten terroristischen Trio namens Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) umgebracht wurden. Die Beschämung danach war groß; hatte man doch jahrelang die Familienangehörigen verdächtigt.

Was der Bericht sagt und zeigt, darüber wurde in der Presse ausführlich berichtet: Die Sicherheitsbehörden hätten versagt. So etwas dürfe sich nicht wiederholen. Dann gibt es Vorschläge, was man in Zukunft besser machen kann: Der mögliche rassistische Hintergrund einer Tat müsse immer geprüft und dokumentiert werden. Bei der Ausbildung der Polizei braucht es interkulturelle Kompetenz; der Verfassungsschutz bedürfe einer Reform, nach Ansicht der Grünen und der Linken müsse er ganz abgeschafft werden usw. – nichts grundlegend Neues.

Im Großen und Ganzen gebe es aber keinen institutionellen Rassismus in den Behörden, abgesehen von möglichen einzelnen Rassisten; keine Hinweise darauf, dass das Mörder-Trio innerhalb der Sicherheitsbehörden gedeckt wurde. So der Bericht.

Dass die Kommission zustande gekommen ist, diesen Bericht geschrieben hat, verdient Anerkennung. Es besteht auch keinerlei Zweifel, dass die Sicherheitsbehörden sich diese Kritik der Kommission beharrlich „erarbeitet“ haben. Auch die Vorschläge scheinen angebracht, es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit sie umgesetzt werden.

Was die Polizei entlastet

Trotzdem aber bleiben Zweifel. Zweifel, ob der Bericht alles enthält, was zu diesem Thema zu sagen wäre. Zweifel, ob sie neben dem, was er zur Sprache bringt und aufdeckt auch nicht einiges verdeckt. Zweifel, ob die Sicherheitsbehörden neben ihrem Versagen doch nicht die ganze Schuld, die Last der Gesellschaft aufgebürdet bekommen haben. Die Polizisten leben ja nicht auf dem Mond, sie sind auch Teil dieser Gesellschaft und ermitteln innerhalb dieser Gesellschaft. Ihre Wahrnehmung ist auch mit durch die Gesellschaft vermittelt.

Ist es denn nicht hier angebracht, zu fragen, warum die Sicherheitsbehörden sich bei der Tätersuche auf die Opferfamilien konzentriert haben? Woher kommt diese Wahrnehmung? Ist die Gesellschaft, die vor einigen Jahren Thilo Sarrazin zu einem Bestseller-Autor erkoren hat, ganz unbeteiligt an dieser Wahrnehmung? Haben die Medien, die Sarrazin zu einem Helden aufgebaut haben, bei diesen Morden ganz anders reagiert als die Sicherheitsbehörden; Stichwort „Döner-Morde“? Wer thematisiert Migranten vorwiegend als Kriminelle?

Haben gewisse Innenminister überhaupt nichts zu tun mit dieser Wahrnehmung, die Muslime mehr als Risiko für die innere Sicherheit betrachten denn als Neubürger mit den ganz normalen Rechten und Pflichten? Warum gab es keinen einzigen Politiker, der die politische Verantwortung auf sich nahm und ging? Tragen die, die sich den Islam nur als antiwestliche Ideologie vorstellen können, überhaupt keine Verantwortung? Überhaupt die Gesellschaft: Während Sarrazin für seine Thesen mit 1,5 Millionen verkauften Exemplaren belohnt wurde, interessierten sich für das Buch von Semiya Şimşek (Schmerzliche Heimat), mit anderen Worten für das Schicksal eines NSU-Opfers, gerade mal 10 000 Menschen.

Dies ist auch ein Zeichen, meine ich.

Die Schlussfolgerung: Gewiss, die Sicherheitsbehörden haben versagt. Aber es greift zu kurz, sich auf sie zu konzentrieren. Denn dies würde heißen, das wahre Ausmaß, die wahren Ursachen für das Problem aus den Augen zu verlieren; mit anderen Worten: zu verbergen, zu verdecken.