Politik
„Wesentlich weniger Aufwand“: Experten rechnen mit weiteren dramatischen Anschlägen
Zwei terroristische Anschläge in Istanbul haben Dutzende Menschen das Leben gekostet. Die Reaktion der türkischen Regierung polarisiert das ohnehin gespaltene Land – zahlreiche kurdische Oppositionelle wurden verhaftet. Experten schätzen die Zukunft des Landes pessimistisch ein. Sie rechnen mit weiteren Anschlägen.
Von Carolina Drüten
Der verheerende Doppelanschlag von Samstag lässt die Menschen in Istanbul traumatisiert zurück. Mittlerweile ist die Zahl der Toten auf 44 gestiegen. Während die Stadt ihre Wunden leckt, verhaften türkische Polizisten mehr als 200 Mitglieder der pro-kurdischen HDP – sie werden verdächtigt, Mitglieder in der terroristischen PKK zu sein oder Propaganda für sie betrieben zu haben. Bilder zeigen verwüstete Büroräume und Schmierereien an den Wänden. Unter den Verhafteten seien auch Bezirksvorstände der Partei sowie die Istanbuler Parteivorsitzende, so eine HDP-Sprecherin.
Die harte Vorgehensweise der Behörden gegen die kurdische Opposition ist weder neu noch überraschend. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte bereits kurz nach dem Anschlag Vergeltung geschworen. Für Savaş Genç, Türkei-Experte und früherer Professor an der Fatih-Universität in Istanbul, ist diese Reaktion nicht ganz uneigennützig: „Die AKP nutzt die Situation aus, um ultranationalistische Stimmen für sich zu gewinnen.“ Die extreme Polarisierung in der Frage um den Kurdenkonflikt komme der Regierungspartei zugute: Die Unterstützung der Nationalisten ist besonders in der Debatte um das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem wichtig, das ihm die Alleinherrschaft im Land sichern würde. Im Frühjahr soll es ein Referendum geben.
„Der Friedensprozess ist gescheitert“
Bereits vor dem Putschversuch im Juli war die Immunität vieler HDP-Politiker aufgehoben worden. Seitdem haben Parteimitglieder unter extremer Verfolgung zu leiden. Zahlreiche kurdische Provinzen stehen seit Monaten unter Zwangsverwaltung, weil die Regierung ihre Bürgermeister abgesetzt und so die Kontrolle über die Gebiete übernommen hatte. Selbst die Vorsitzenden der im Parlament drittstärksten Partei, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sitzen seit November in Untersuchungshaft. Auch sie sehen sich mit Terrorismusvorwürfen konfrontiert. Tatsächlich hatten sie es nach Anschlägen vermissen lassen, sich von der PKK zu distanzieren.
Währenddessen bekämpfen sich Militär und PKK im Südosten des Landes weiter erbittert. Die Operation der Armee startete vor über einem Jahr. Die Verluste auf beiden Seiten sind groß, gestorben sind aber auch Zivilisten, und viele Städte liegen in Trümmern. „Der Friedensprozess ist gescheitert“, sagt Genç. Hoffnung auf eine politische Lösung hat er unter den aktuellen Voraussetzungen nicht.
Anschlag soll laut TAK „Aufmerksamkeit auf Kurdenfrage“ lenken
Zu den Anschlägen in Istanbul hatten sich die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) bekannt. Sie gilt als Splittergruppe der Terrororganisation PKK, jedoch ist umstritten, inwiefern die Organisationen verbunden sind. Türkei-Experte Genç erklärt, dass beide Gruppierungen eng zusammenarbeiten: „Wenn ein Angriff auf Zivilisten geplant ist, übernimmt das die TAK, damit das Image der PKK nicht beschädigt wird.“ Die TAK hatte angegeben, mit den jüngsten Attentaten auf die Inhaftierung des PKK-Anführers Abdullah Öcalan und auf die Situation im Südosten des Landes aufmerksam machen zu wollen.
In Gedenken an die Opfer legten europäische Diplomaten zusammen mit dem Bürgermeister des Stadtteils Beşiktaş, in dem der Anschlag passiert war, Blumen nieder. Kanzlerin Angela Merkel hat die Taten verurteilt und der türkischen Bevölkerung ihr Mitgefühl ausgedrückt. Außerdem bot sie Erdoğan eine enge Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terror an.
Der türkische Präsident hatte den Westen, insbesondere Deutschland, wiederholt vorgeworfen, die PKK zu unterstützen. „Es ist Teil der Strategie, die Schuld nicht bei sich selbst zu suchen“, erklärt Udo Steinbach, früherer Leiter des Deutschen Orient-Instituts. Statt politische Fehlentwicklungen einzugestehen, werde das Ausland für all das verantwortlich gemacht, was im eigenen Land schief läuft. Die PKK gilt in Deutschland als terroristische Organisation und ist seit 1993 verboten.
Düstere Zukunftsaussichten für die Türkei?
Es gibt nur wenig Hoffnung für das von Terror, Gewalt und Willkür geprägte Land, in eine ruhigere Zukunft zu steuern. Steinbach ist überzeugt, dass von Deeskalation in der Türkei keine Rede sein kann: „Es wird weiter dramatische Terroranschläge geben.“
Auch Savaş Genç ist pessimistisch. Solange die PKK in Kämpfe in Syrien verwickelt ist, erklärt er, fehle es der Gruppe derzeit an Ressourcen, um paramilitärisch gegen die türkische Armee vorzugehen. Anschläge seien dagegen mit wesentlich weniger Aufwand realisierbar. „Ich bin in schrecklicher Sorge, dass gegen die Zivilbevölkerung weitere Terroranschläge geplant sind.“