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Politik

Zentralasien: Die große diplomatische Chance für die Türkei

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Geostrategische Überlegungen mit Blick auf Zentralasien werden die USA und Russland nach dem Abzug aus Afghanistan zu mehr Zusammenarbeit zwingen. Die Türkei kann dabei als ehrlicher Makler zum Schlüsselfaktor werden. (Foto: cihan)

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Zentralasien: Die große diplomatische Chance für die Türkei
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Bedenkt man, wie viele Probleme die Türkei im Nahen Osten hat, wo sie überall versucht, am Rande einer zerbrechlichen konfessionellen Bruchlinie – mit dem Iran, Irak und Syrien auf der einen sowie den sunnitischen Golfmonarchien und Ägypten auf der anderen Seite – zu navigieren, gewinnen auch größere geopolitische Entwicklungen für Ankara an Bedeutung. Gerade in Zentralasien, wo die Weltmächte Russland, China und die USA je nach Themenbereich entweder aufeinanderprallen oder gemeinsame Interessen haben können, könnten auf die Türkei Probleme zukommen. Und bei jeder dieser Gelegenheiten stellt sich die Frage, was zu tun wäre und wen man sinnvollerweise Unterstützung zukommen lassen sollte.

Da der Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan bis 2014 unaufhaltsam näher rückt, ist eine Zunahme von Bestrebungen und Aktivitäten Russlands und Chinas zu verzeichnen, um mehr Einfluss in Zentralasien zu gewinnen und somit sicherzustellen, dass die Stabilität in ihrer Nachbarschaft im Einklang mit den eigenen nationalen Interessen bestehen bleibt. Es ist noch nicht bekannt, wie viel Einfluss die USA nach dem Rückzug vom Hindukusch in dieser Region behalten kann und wird, insbesondere vor dem Hintergrund der immer wieder auftauchenden Unwägbarkeiten, wenn es darum geht, im Fernen Osten, in Afrika und im Nahen Osten mit angemessenem Aufwand die Wahrung der eigenen Interessen sicherzustellen – von den wirtschaftlichen Herausforderungen in der Heimat ganz zu schweigen. In der Zwischenzeit signalisiert Russland wiederum, dass es stärkere Ambitionen als früher hat, als Akteur in den eigenen „Hinterhof“ zurückzukehren bzw. seine traditionelle Einflusssphäre in Zentralasien wiederherzustellen. Russland würde eine schwindende Bedeutung der USA in dieser Region begrüßen und ist gleichzeitig daran interessiert, ein Vordringen und ein übermäßige Einflussnahme der Chinesen einzudämmen.

Ich denke, es ist unter der Berücksichtigung der langfristigen strategischen Ziele davon auszugehen, dass die USA ein Interesse daran haben, dass Russland die entstehende Lücke in Zentralasien füllt und nicht das immer weiter an Bedeutung gewinnende Schwellenland China, welches ohnehin weiter in frühere und nun tendenziell stärker preisgegebene Einflusszonen der Vereinigten Staaten eindringen wird.

Umfassendes Abkommen zwischen den USA und Russland zu Zentralasien?

Auch Russland scheint angesichts zunehmender Bestrebungen der Volksrepublik China, Dominanz in Zentralasien aufzubauen, ein gewisses Maß an Kontinuität bezüglich der Beibehaltung eines US-Einflusses in der Region zu begrüßen. Nach meinem Informationsstand scheint es eine implizite Vereinbarung in diesem Sinne zwischen Washington und Moskau sogar schon zu geben.

Die Ankündigung des US-Verteidigungsministers Chuck Hagel im März, wonach das letzte Stadium der Ausweitung des auf europäischem Boden errichteten Raketenabwehrschildes ohne direkt erkennbare Gegenleistung Russlands abgeblasen würde, könnte das Vorzeichen eines bevorstehenden Tauwetters zwischen Russland und den USA sein, das in weiterer Folge den Weg frei machen könnte zu einem umfassenden Abkommen zwischen den beiden Großmächten hinsichtlich der Zukunft Zentralasiens.

Was bedeutet das nun für die Türkei? Ein russisch-amerikanisches Abkommen scheint auf den ersten Blick nicht unbedingt im Sinne der türkischen nationalen Interessen zu sein, da Ankara versucht, auf Grund der eigenen ethnischen und kulturellen Affinität zu Zentralasien seine Bedeutung zu steigern. Auf Grund des Blicks auf größere Bedrohungen im überregionalen Maßstab werden die USA diese Ambitionen nicht als vordringlich betrachten und könnten dazu neigen, türkische Bedenken und Sorgen zu übersehen. Ich denke, dass hier allerdings gerade die Chance Ankaras anfängt, mitzugestalten. Die Tatsache, dass die Türkei, ein traditioneller Verbündeter der USA, in den letzten Jahren auch bedeutende Beziehungen zu China und Russland aufgebaut hat, sollte Ankara helfen, in turbulenten Gewässern besser navigieren zu können und dort Ruhe hineinzubringen, wo unterschiedliche nationale Interessen der Großmächte hinsichtlich Zentralasiens zusammenprallen.

Das primäre Ziel der Türkei seit Anfang der 90er-Jahre war es, eine politische Orientierung der Länder in der Region im Einklang mit der allgemeinen Haltung der westlichen Allianz mithilfe euro-atlantischer Organisationen zu sichern. Als die USA später ihr Interesse darauf reduzierten, die Länder Zentralasiens nicht in einen direkten russischen Einflussbereich kommen zu lassen, konnte das Ziel, die euro-atlantische Integration dieser Länder zu festigen, mit viel weniger Aufwand verfolgt werden. Im Nachhinein können wir feststellen, dass Ankaras Politik der Diversifizierung in seiner Außenpolitik und das Legen einiger Eier in die russischen und chinesischen Körbe im Laufe der letzten Jahre eine sehr kluge Wahl war. Dies wird helfen, die potenziellen Reibungsflächen mit den zentralasiatischen Ländern zu reduzieren und möglicherweise – je nach Umständen und Gegebenheiten – den Weg für eine Kooperation mit Russland, China oder auch mit beiden Ländern öffnen.

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Türkisch-russische Annäherung als große Erfolgsgeschichte

Sowohl die Türkei als auch Russland haben Verständnis und Wertschätzung mit Blick auf die Tatsache entwickelt, dass die beispiellose Annäherung zwischen den beiden Staaten in den letzten Jahren, ihr Beziehungswandel von Feinden zu strategischen Partnern, sich für beide Seiten voll bezahlt gemacht hat. Die Türkei ist ein Top-Verbraucher russischen Erdgases und Russland ist ein wichtiger Markt für türkische Exporteure, Bau- und Contractingunternehmen. Es wird erwartet, dass das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern, welches im Jahr 2012 noch 32 Milliarden US-Dollar betragen hatte, in den kommenden Jahren weiter und zwar voraussichtlich bis zu 100 Milliarden US-Dollar wachsen wird. Russland machte einen großen Gewinn, als man sich einen Regierungsvertrag zum Bau des ersten Kernkraftwerks der Türkei sicherte. Beide Seiten hoben wechselseitig die Visapflicht für die Staatsangehörigen des jeweiligen anderen Landes auf. Die Türkei wurde zu einem Top-Reiseziel für die Russen, mit mehr als 3,5 Millionen russischen Touristen im vergangenen Jahr. Die größte Bank Russlands, Sberbank, kaufte die DenizBank, die türkische Einheit des französisch-belgischen Kreditgebers Dexia, im letzten Jahr, um sich einen Einstieg in den türkischen Markt zu sichern, auf den sie schon lange ein Auge geworfen hatte.

Hinter all diesen Erfolgsgeschichten steht ein sehr gutes und hoch wirksames Instrument in Form des „High-Level-Kooperationrats“ (ÜDIK), das wie eine gemeinsame Kabinettssitzung der Regierungen funktioniert. Dieser wird durch zusätzliche Einrichtungen und Projekte unterstützt, wie z.B. die von den Außenministerien beider Länder unterstützte türkisch-russische Joint Strategic Planning Group. In der Tat haben es beide Länder geschafft, ihre abweichenden individuellen Positionen in Bezug auf die syrische Krise beiseite zu stellen. Beide Länder ließen es dank regelmäßiger Gespräche und Konsultationen, die mittels dieses Mechanismus geschaffen wurden, nicht zu, die bilateralen Beziehungen von der syrischen Krise beeinflussen zu lassen. Ich denke, wir haben einen Punkt erreicht, an dem beide Seiten vorsichtig handeln, um die bisher erreichten Errungenschaften und Chancen nicht zu gefährden. Im Zuge dieses Prozesses war beispielsweise der Staatssekretär im türkischen Außenministerium, Feridun Sinirlioğlu, im letzten Monat in Moskau, um den russischen Vize-Außenminister und Staatssekretär Karassin zu treffen und mit ihm darüber zu diskutieren, wie beide Staaten von einer wechselseitigen Zusammenarbeit in Zentralasien und dem Kaukasus profitieren könnten. Dieser Besuch sollte auch das bevorstehende Treffen zwischen Ahmet Davutoğlu und seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow vorbereiten, das für den 17. April eingeplant worden ist. Es wird das dritte reguläre Meeting der türkisch-russischen Joint Strategic Planning Group.

Türkei kann zentralasiatischen Staaten Angst vor Dominanz nehmen

Noch wichtiger ist, dass auch Russland nun eingesehen hat, dass die Türkei eine konstruktive Rolle in jenen zentralasiatischen Ländern spielen kann, in denen das Gespenst der alten sowjetischen Dominanz immer noch verweilt. Wenn Russland und die Türkei zusammenarbeiten und dasselbe in Zentralasien umsetzen können, was sie im Balkan, insbesondere in Bosnien, erreichen konnten, wo sie immer wieder zum Aufweichen verhärteter Fronten zwischen Bosniaken und Serben beitrugen, könnten beide Länder eine dauerhafte Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil auf den Weg bringen. Des Weiteren würde oder könnte Russland auch eine stärkere Rolle der Türkei in Pakistan und Afghanistan gutheißen, wo Russland Instabilität und das Einsickern des Extremismus von dort aus in Zentralasien und am Ende auch in die russische Föderation befürchtet. Die türkische Erfahrung kann dabei auch aus russischer und chinesischer Perspektive helfen, ein wichtiges Bollwerk gegen die Ausbreitung des Radikalismus und Extremismus zu bilden.

Russland erkennt, dass die Collective Security Treaty Organization (OVKS), ein Sicherheitsbündnis, errichtet von ehemaligen Sowjetrepubliken, nicht ausreichend sein könnte, um Revolutionen wie im Zuge der arabischen Aufstände in Zentralasien zu verhindern. Denn diese können jederzeit an die Türen der dortigen Regierungen klopfen. Aus seiner eigenen Erfahrung während der letzten Wahlperiode weiß der russische Präsident Vladimir Putin sehr gut, dass er mehr Soft Power braucht als eine harte Hand, wenn es darum geht, Bewegungen einzudämmen, die sich über die sozialen Netzwerke und das Internet organisieren.

Die Türkei ist mit ihrer in erheblichem Maße zum Einsatz gebrachten Soft Power in zentralasiatischen und kaukasischen Ländern, die sich aus ethnischen und kulturellen Verbindungen speist, inmitten der Ereignisse im Nahen Osten und in Nordafrika mit neuer Schlagkraft hervorgetreten. Viele Länder in dieser Regierung orientieren sich am türkischen Modell bei der Verwirklichung von Demokratie, Menschenrechten und Grundfreiheiten. Die Türkei, die Wert auf Stabilität und Handel legt, um ihr exportorientiertes Wirtschaftswachstum zu gewährleisten und zu fördern, entscheidet sich verständlicherweise für inkrementelle (von innen heraus wirkende, prozessmäßige) Änderungen anstatt für disruptive, revolutionsähnliche Bewegungen, die selbst bei Erfolg Jahre brauchen, um neue funktionstüchtige Gemeinwesen und Regierungen zu stabilisieren. Syrien war dabei eine Ausnahme, und zwar wegen der unglaublichen Brutalität des Regimes, die sowohl in der Türkei, als auch in der ganzen Welt für einen großen Aufschrei gesorgt hatte.

Die Türkei beteiligte sich auch an der Shanghai Cooperation Organization (SCO), in der sie im Juni 2012 mit der Unterstützung Chinas und Russlands Dialogpartner wurde. Diese Beteiligung ist ein weiterer Beweis dafür, dass sich die außenpolitische Diversifizierung für die Türkei gelohnt hat.

Brückenfunktion für die Zukunft

Die Äußerungen des chinesischen Vize-Außenministers Cheng Guoping während des SCO-Gipfels in Peking unterstreichen dies noch stärker. Er brachte zum Ausdruck, dass die Türkei, die enge Beziehungen zu den Mitgliedern der Organisation hat, ein wichtiger Akteur in der Region sei und dass durch die Aufnahme der Türkei ein wichtiger Beitrag zum anhaltenden Kampf gegen Terrorismus, Separatismus, Extremismus, illegale Aktivitäten an den Grenzen und den Drogenhandel in der Region geleistet werden würde.

Alles in allem wird die Türkei nach dem (vor?)eiligen Abtritt der Amerikaner von der afghanischen Bühne mit schwierigen Entscheidungen mit Blick auf Zentralasien konfrontiert werden. Die EU hat ihre eigenen inländischen wirtschaftlichen Probleme und ihre Kapazitäten und Fähigkeiten, sich zu engagieren, weiter abgebaut. Ankara hat einige Instrumente, um mit den künftigen Herausforderungen fertig zu werden, aber es wird möglicherweise in erster Linie mit Russland verhandeln müssen und in geringerem Maße auch mit China, um ein neues Gleichgewicht bezüglich seiner Beziehungen zu zentralasiatischen Regierungen finden zu können. Gemeinsam mit ihrer jungen und dynamischen Bevölkerung ist die robuste türkische Wirtschaft ein besonders bedeutsamer Faktor, um der Türkei zu helfen, eine wichtige Brückenfunktion zwischen Russland und China über Zentralasien auszuüben und zu versuchen, die Sorgen der zentralasiatischen Regierungen hinsichtlich einer Dominanz dieser Mächte zu zerstreuen.

Autoreninfo: Abdullah Bozkurt gilt als Kenner der türkischen Außenpolitik, insbesondere im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Ausrichtung. Er schreibt für „Today’s Zaman“.